„Ukrainekrieg: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ – der Titel des Buches im Verlag Westend academics spricht klar aus, was es will: eine neue Entspannungspolitik. Dass Günter Verheugen den Sammelband morgen in Berlin präsentiert, passt, wo er doch damals auf FDP-Seite mit der Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition durch seine schon früh enge Verbindung mit Hans-Dietrich Genscher verbunden war und als Landesvorsitzender der Jungdemokraten in Nordrhein-Westfalen wie die Jugendorganisation der FDP insgesamt für die von Egon Bahr konzipierte Politik einsetzte, als diese in der FDP noch sehr umstritten war.
Die Herausgeber Sandra Kostner und Stefan Luft postulieren, „wer eine stabile Friedensordnung in Europa will, muss zu einer Kooperationsdpolitik mit Russland zurückfinden“. Schon in ihrer Einleitung untermauern sie alles und mehr, was eine regelmäßig auf Tichys Einblick kommentierende Lesergruppe schreibt, von den Plänen amerikanischer Thinktanks zur territorialen Auflösung Russlands und der US-Politik des Regime Change von Haiti 1994 bis Syrien 2012 und nun im Ukrainekrieg.
Im eigenen Beitrag von Sandra Kostner (Historikerin und Soziologin mit Schwerpunkt Migrationsforschung) signalisieren die Zwischenüberschriften den Duktus ihrer Analyse – ein Gegen-Narrativ zur Regierungspolitik der Ampel inklusive Unionsparteien:
- Unsere Interessen zuerst! Oder wie man eine Konfrontationsdynamik erzeugt
- Hotspot der Konfrontation: die Ukraine
Für Kostner und Folgende hat der Westen unter seiner Führungsmacht USA den Weg der politischen Diplomatie durch den des Krieges ersetzt. Wer daran zweifelt, dass es dafür genügend Berichte und Quellen gibt, dem fehlen diese nach Lektüre dieses Buches nicht mehr.
Auth: Energieimperialismus
Wer sich in seiner Sicht vom Maidan-Putsch in der Ukraine bestätigt sehen möchte, findet bei Politikwissenschaftler Günther Auth, „in der einschlägigen Literatur (sei) mittlerweile anerkannt, dass der Regierungswechsel von Wiktor Janukowytsch zu Oleksandr Turtschynow beziehungsweise Arsenij Jazenjuk im Februar 2014 nicht die Folge einer ›friedlichen‹ Revolution, sondern Ergebnis eines orchestrierten Putsches war, bei dem sich nicht die Frage stellt, ob, sondern wie sehr westliche Kräfte daran beteiligt waren.“
Was und wer hinter dem Ukraine-Krieg steht, formuliert Auth so: „Ein kurzer kritischer Blick in die Geschichte der USA verdeutlicht also, dass die demokratischen Institutionen des Landes immer eine Fassade für die gezielte Einflussnahme auf die Politik durch die einflussreichsten Kapitalfraktionen waren; dass mit der zunehmenden Verflechtung zwischen Investmentbanken, Großkonzernen und dem, Militär bis 1945 eine militarized democracy als Fundament für einen eigentümlichen warfare state entstanden war; dass sich die konservativen Milieus der amerikanischen Zivilgesellschaft ab den 1950er-Jahren angesichts der sich anbahnenden Veränderungen innerhalb der USA und in der Konfrontation mit der Sowjetunion in einer Neuen Rechten mit radikalen Strömungen organisierten, deren Angehörige zumeist selbst zur Geschäftswelt beziehungsweise zum Militär gehörten und die sich emphatisch zum Amerikanismus in seiner traditionellen Form bekannten und dass sich neben den Denkfabriken auch die Medien und wissenschaftlichen Institutionen an den ›besten‹ Universitäten des Landes mit dem militärisch-industriellen Komplex integrierten.“
Auth fasst die geostrategische US-Losung nach der Implosion der Sowjetunion in diese Formel: „Die USA würden nach 1990 nirgendwo auf der Welt mehr zulassen, dass sich politische Kräfte anderer Staaten, inklusive derjenigen von offiziellen Verbündeten, solche Ressourcen aneigneten, die als Basis für die Ausübung von bedeutendem politischen Einfluss angesehen werden könnten. Noch konkreter: Die US-Regierung würde von sich aus alle erforderlichen Mittel ergreifen, inklusive der präventiven Anwendung militärischer Gewalt, um ihren großen Konzernen den Zugriff auf die globalen Öl- und Gasvorkommen zu sichern.“
Der Wirtschaftskrieg und seine Erfolgsaussichten
Davon handelt der Beitrag von TE-Autor Roland Springer. Nach einem Blick zurück resümiert Springer: „Den Deutschen drohen aufgrund des Wirtschaftskrieges mit Russland starke Wohlstandsverluste, die dieses Mal nicht nur die Ostdeutschen, sondern auch die Westdeutschen zu spüren bekommen. Sie ließen sich nur vermeiden oder wieder wettmachen, wenn es gelänge, sich von den stark verteuerten fossilen Energieträgern durch den Ausbau alternativer Energieträger weitgehend unabhängig zu machen. Da dies aufgrund des Verzichts auf Atomenergie in überschaubarer Zeit aber nicht möglich ist, kann mit größeren Wachstumsimpulsen durch den Umbau der Energieversorgung allenfalls mittel- und langfristig gerechnet werden. Selbst wenn es vor diesem Hintergrund in Deutschland in den kommenden Jahren zu keiner dramatischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage kommen sollte, wird das bisher erwirtschaftete hohe Wohlstandsniveau wohl nicht mehr zu halten sein.“
Den britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze zitiert Springer aus dessen Interview mit einem deutschen Online-Portal im September 2022 zur Frage, ob die Sanktionen wie gewünscht wirken:
Im Gegenteil, die Russen verdienen, sich dumm und dämlich. Und zwar dank ihrer Energieexporte. Das ist die andere Seite der Medaille. Zwar verbrennen sie tagtäglich Unsummen an Geld, weil sie Erdgas aufgrund der vollen Lager abfackeln müssen. Aber der Gasexport umfasste ohnehin immer nur einen Bruchteil der russischen Energieexporte. Das ganz große Geld macht der Kreml mit Erdöl. Und selbst wenn Russland das Öl nun zum Discountpreis verkauft, sind die Gewinne immer noch immens. Deswegen bezweifeln die Skeptiker, dass der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland wirklich Erfolg hat.
Und Springer schließt mit dieser Perspektive: „Der in Budapest geborene britische Soziologe Frank Furedi dürfte daher mit seiner Einschätzung richtigliegen, dass die von der US-Allianz betriebene Instrumentalisierung des russischen Angriffs auf die Ukraine für ein polit-moralisches Revival of the West wohl ebenso zum Scheitern verurteilt ist wie umgekehrt Vorstellungen innerhalb der russischen Führung von der Wiederherstellung ihrer einstigen Hegemonialmacht in Osteuropa. Beides zeugt von der Hybris zweier kriselnder Weltmächte, deren einstige geopolitischen Vormachtstellungen in den letzten Jahren erodiert sind. Anlässlich des schon lange schwelenden Konflikts um die geostrategische Zuordnung der Ukraine meinen sie nun, diesen Erosionsprozess mit militärischen respektive wirtschaftlichen Mitteln jeweils für sich stoppen und sogar wieder umkehren yu können. Der lachende Dritte wird wohl China sein, das seinen geopolitischen Einfluss schon seit lahren kontinuierlich ausbaut.“
Lehren für eine künftige Entspannungspolitik
Politikwissenschaftler Stefan Luft sieht das so:
„Eine »Zeitenwende« ist eingetreten – allerdings anders, als sich Bundeskanzler Olaf Scholz das vorgestellt hat: Die Kriegsgefahr – auch das nukleare Inferno – ist so nah wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Verhältnis zu Russland ist zerrüttet und aller Voraussicht nach mittelfristig schwer beschädigt. Die schleichende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen ist gemündet in einen Bruch mit dem Westen. Die europäische Sicherheits-ordnung gehört der Vergangenheit an. Die EU muss allerdings auch in Zukunft, ob sie will oder nicht, in Nachbarschaft zu Russland leben. Russland ist derzeit einseitig abhängig von China, hat aber kein Interesse, das auf Dauer zu bleiben. Einen notwendigen Ausgleich könnte die EU bieten, namentlich Frankreich und Deutschland. Die EU sollte zuallererst daran interessiert sein, dass es auf eigenem oder benachbartem Boden keinen Krieg gibt. Russland hat dasselbe Interesse, weil selbst autoritär regierte Staaten stark an wirtschaftlicher Prosperität interessiert sind. Ob die Politik zu einer Zusammenarbeit mit Russland zurückfindet, ist offen. Für die Zukunft des Kontinents ist es eine Überlebensfrage. Von gleicher Relevanz ist, dass Deutschland und Europa der geopolitischen Konfrontation der USA mit China nicht folgen sollten.
Eine Mehrheit der Deutschen will so rasch wie möglich eine Friedenslösung. Das haben schon 2022 verschiedene Umfragen gezeigt. So waren beispielsweise 77 Prozent der Befragten im August 2022 der Meinung, dass der Westen konkrete Bemühungen unternehmen sollte, um Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges einzuleiten (17 Prozent waren dagegen).
87 Prozent der Befragten aller Wählergruppen befürworteten, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen (elf Prozent dagegen) 80
Egon Bahrs Vermächtnis »Es ist Europas Verantwortung, dass ›Kooperation‹ zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird«, darf nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden. Auch sein Konzept »Wandel durch Annäherung« war Mitte der 1960er-Jahre eine Provokation. Heute ist es das auch.
Das ist kein Grund, es nicht zu wagen.“
Die meisten Beiträge des Sammelbandes greife ich nicht auf, es geht mir darum, einen Eindruck zu vermitteln. Etliche Texte finde ich in ihrem sehr umfangreichen Literatur- und Quellenanhang höchst bemerkenswert. Wer die Zeit hat, sich in die Materie breit und tief einzulesen, findet in diesem Buch mehr als ausreichend Hinweise.
Der Botschaft von der Wiederauflage der Entspannungspolitik kann ich mich nicht anschließen. Ich halte sie für wirklichkeitsfremd – auch dafür finden sich viele Belege im Buch, auch wenn sie so dort nicht so verstanden werden.
Erwähnen will ich noch den Beitrag „Die Grünen und der Krieg“, in dem Stefan Luft die Entwicklung der „Grünen als Partei des Pazifismus“ zu „Bündnis 90/Die Grünen als Partei des Krieges“ schildert und diesen Beitrag so ausklingen lässt:
„Die bellizistische Wende ist auch Ausdruck einer Beliebigkeit, die heute das eine und morgen das Gegenteil für erstrebenswert hält. Der Opportunismus gegenüber den jeweiligen mutmaßlichen Siegern der Geschichte lässt sich als Versuch verstehen, rechtzeitig auf der Seite der Mächtigen zu stehen.“
Sandra Kostner, Stefan Luft: Ukrainekrieg
Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht
Westend Verlag, 352 Seiten
Bei Erscheinen dieser Buch-Betrachtung meldet dts:
Geheimdienst: Russlands Drohnenoffensive wenig erfolgreich
London/Moskau/Kiew (dts Nachrichtenagentur) – Laut Einschätzungen des britischen Geheimdienstes hat das russische Militär im Mai über 300 unbemannte Einweg-Angriffsflugzeuge (OWA-UAVs) der iranischen Shahed-Serie gegen die Ukraine eingesetzt und damit den bisher intensivsten Einsatz dieses Waffensystems vollzogen. Mit dem Abschuss so vieler OWA-UAVs versucht Russland wahrscheinlich, die Ukraine zu zwingen, ihre Bestände an wertvollen, modernen Luftabwehrraketen abzuschießen, hieß es am Montag im täglichen Lagebericht aus London. Es sei unwahrscheinlich, dass Russland damit nennenswert erfolgreich war: Die Ukraine habe mindestens 90 Prozent der ankommenden OWA-UAVs neutralisiert, hauptsächlich mit ihren älteren und billigeren Luftabwehrwaffen und mit elektronischer Störung.
Russland hat laut London wahrscheinlich auch versucht, die ukrainischen Streitkräfte weit hinter der Frontlinie zu orten und zu treffen. Aufgrund mangelhafter Zielerfassung seien sie jedoch nach wie vor sehr unfähig, solche dynamischen Ziele aus der Ferne zu treffen, hieß es weiter. Unterdessen sagte Moskau, den ukrainischen Streitkräften sei es nicht gelungen, eine Großoffensive auf fünf Frontabschnitten im Süden des Gebiets Donezk erfolgreich durchzuführen.
Die Ukraine habe sechs mechanisierte Bataillone und zwei Panzerbataillone eingesetzt und 250 Personen, 16 Panzer, drei mechanisierte Infanteriekampffahrzeuge und 21 gepanzerte Kampffahrzeuge verloren, zitiert die russische Nachrichtenagentur Tass den offiziellen Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Von ukrainischer Seite gab es dazu zunächst keine Stellungnahme. Stattdessen sagte der Befehlshaber des Ukrainischen Heeres, Oleksandr Syrskyj, man sei in der Nähe von Bachmut weiter vorgerückt.
Dort sei es gelungen, eine russische Stellung zu zerstören.
Anmerkung: „Britischer Geheimdienst“ ist die gängige West-Medien-Chiffre für US-Dienste.