Seit mehr als einem Jahr gibt es wieder einen Krieg auf dem europäischen Kontinent. Auch in Deutschland und anderen westlichen Staaten leben vom russischen Überfallskrieg betroffene Menschen. In einer Dokumentation von phoenix/DW, die auch auf ARD und ZDF ausgestrahlt wurde, sprechen zehn unterschiedlich Betroffene darüber. Die Dokumentation besteht ausschließlich aus Statements, die Filmemacher verzichten bewusst auf Archivmaterial oder Bilder aus der Ukraine. Es fehlt ein sichtbarer, begleitender Moderator, die Aussagen der Betroffenen bleiben völlig unkommentiert. Dem Zuschauer wird eine ungefilterte Teilhabe an den subjektiven Wahrnehmungen der Protagonisten ermöglicht. Eine dieser Protagonisten ist die 63-jährige Ludmila. Am Anfang der Kämpfe sei sie aus Angst jedes Mal in einen Keller gegangen, berichtet sie. Irgendwann bleibt sie beim Sirenenlärm einfach im Bett liegen. „Wenn es auf mich herunterknallt, dann knallt es halt“, meint Ludmila nüchtern über den russischen Raketenbeschuss. Man ist schockiert und kann es doch verstehen, als sie schildert, wie schnell dieser Gewöhnungsprozess eingetreten sei. Es geht einem ans Herz als Ludmila erzählt, wie sie sich noch hastig mit ukrainischen Lebensmitteln eindeckt. Alles, um wenigstens ein Stück Heimat dabeizuhaben. „Ich habe sogar Pflanzensamen mitgenommen“, sagt sie lächelnd und man fühlt sich unmittelbar an die eigenen Großeltern erinnert.
Flucht als Abenteuer
Russische Gesellschaft trägt Mitschuld
Viele Bürger im Westen stellen sich die Frage, ob die russische Gesellschaft zu wenig gegen Putin getan hat. Die Erzählungen des 58-jährigen Dokumentarfilmers Vitaly sollen Aufschluss darüber geben. Für ihn steht die russische Schuld außer Frage. „Russische Kerle töten Soldaten, die ihr Land verteidigen“, meint er zum Krieg. Zur Verantwortung der Gesellschaft bezieht er klar Stellung. „Wir alle, als russische Bürger, haben unser kleines Glück genossen“, sagt er zur in Russland vorherrschenden Lethargie. „Wir alle haben Putin geschaffen“, fügt er an. Jetzt habe die russische Zivilbevölkerung zwar die Chance zum Widerstand. Doch dieser Widerstand sei inexistent. Vitaly sei sich dessen gewiss, dass die russische Führung schon an einer aus dem Fenster gehängten ukrainischen Flagge zusammenbrechen würde. Doch nicht mal zu solch einer Geste könne man sich aufraffen.
Putin-Fan lebt seit 1992 in Deutschland
Die Rolle des Putin-Apologeten und Gegenpol zur Pro-Ukraine-Seite in der Doku hat der 40-jährige Roman. Seine Äußerungen haben fast schon etwas von einer Karikatur eines Putin-Sympathisanten. Wenn er selbstbewusst äußert: „Mit der Meinung von Wladimir Putin und der russischen Regierung stimme ich zu 100% überein“, kommt man ins Schmunzeln. Das Wort Krieg vermeidet er. „Es handelt sich um eine Militäroperation zum Schutze der Bevölkerung der Donbassregion“, sagt er. Die obligatorischen Schuldigen sind für ihn außerhalb Russlands zu suchen. Die Ukraine habe 2014 selbst mit Aggressionen gegenüber der Donbassregion einen Konflikt mit Russland herbeigeführt. Der Westen habe darauf nicht hart genug reagiert. Die alte Leier des Kremls.
Moralkeule wird weggelassen
Kontroverse Äußerungen völlig ohne Kommentierung im Raum stehen zu lassen, ist eine der großen Stärken der Doku. Authentisch und ohne gezielte Manipulation können die Protagonisten ihre Meinung vertreten. Anstatt mit martialischen Bildern auf Emotionalisierung zu setzen, stellt die Doku das Wort in den Vordergrund. Die unterschiedlichen Bewertungen der einen oder anderen Seite sorgen für Abwechslung und Spannung. Wohltuend ist es, dass auf politischen Haltungsjournalismus gänzlich verzichtet wird. Nüchtern und sachlich steht die subjektive Perspektive im Fokus. Die Doku stellt das Individuum über das Kollektiv. Die Doku hat allerdings auch ein paar Schwachstellen. Aus Sicht des Zusehers ist es mühsam, die Statements von zehn sich ständig wechselnden Protagonisten verdauen zu müssen. Nach wenigen Sätzen zu einem Thema kommt ein Cut und der nächste Protagonist ist etwas anderem dran. Es wirkt überhastet. Da sich einige Perspektiven ähneln, wäre eine Reduzierung der Protagonisten zuschauerfreundlicher gewesen. Alles in allem ist die Doku auf menschlicher Ebene sehr berührend und sehenswert. Auf eine schwere Moralkeule wird aber verzichtet. Die Perspektiven werden dargestellt und unterstreichen einander. Viele andere Journalisten könnten sich von diesem sachlichen Beitrag etwas abschauen.
Fabian Kramer wird im Schwarzwald zum Koch ausgebildet. Für Tichys Einblick betätigt er sich als freier Autor.