Tichys Einblick
Guten Morgen liebe Sorgen

Das Gegenteil eines Woken: Jürgen von der Lippe wird 75

Jürgen von der Lippe wird an diesem Donnerstag 75 Jahre alt. Der ehemalige Leutnant der Bundeswehr steht immer noch auf der Bühne - und ist dort das Gegenteil von einem Woken.

IMAGO / Revierfoto

Der Sommer 1987 war wie eine Seuche. Saßen zwei oder mehrere Personen länger zusammen, fing einer an, holte tief Luft und sang: „Guuuuteeeen Morgen liebe Sorgen“. Der Nebenmann hasste ihn dafür, setzte aber trotzdem ein: „… habt Ihr auch so gut geschlafen, na dann ist ja alles klar.“ Jürgen von der Lippe hatte den Deutschen einen fetten Ohrwurm in den Kopf gesetzt. Es war sein Durchbruch. Zumindest für eine breitere Masse.

Wie kommt man jetzt vom Stichwort „breitere Masse“ zu Hawaii-Hemden, dem Markenzeichen von Jürgen von der Lippe. Nun, sein Übergewicht ist immer wieder Thema in den Gags und Liedern von der Lippes. Selbstironie gehört zu seinen Stärken. Da er an diesem Donnerstag 75 Jahre alt wird, erfüllt er damit alle Kriterien des „Alten, Weißen Mannes“, des Feindbildes der Woken.

Als solches Feindbild für Woke taugt von der Lippe durchaus. So wehrt er sich öffentlich gegen das Gendern. Als er Anfang 2022 im Interview bei T-Online war, verteidigte er seine Position tapfer gegen die drei Fragesteller. Ihre Fragen wurden immer öfter zu Statements und sie verzweifelten nachlesbar an der Situation, den Interviewten vergeblich bekehren zu wollen – obwohl sie diese Situation aus dem Umgang mit ihren Lesern eigentlich kennen müssten.

Seine Programme sind ein Albtraum für Woke. Jedem dritten Satz müsste eine Triggerwarnung vorausgehen. Vor allem, weil Jürgen von der Lippe neben Essen am liebsten Witze über Sex macht und damit auf eine Generation trifft, die immer prüder wird, wie es von der Lippe in seinem Buch „Sex ist wie Mehl“ treffend beschreibt. Was aufgeklärt, weltoffen und progressiv sein will, ist halt nur verklemmt, intolerant und spießig.

Jürgen von der Lippe ist das Gegenteil eines Woken. Seine Gags zeugen von Lebensfreude, die nach dem Motto handelt „Genießer fragen nicht nach Morgen.“ Und die Gürtellinie ist für ihn mehr eine Zielscheibe als eine Grenze, etwa wenn er sich über Frauenzeitschriften auslässt, die verbreiten, eine Mehrheit der Männer litt unter vorzeitiger Ejakulation: „Ich bitte Sie, wer leidet?“ Oder wenn er ein emanzipiertes Date schildert: „Ich möchte, dass wir beide oben liegen.“ Und auch die Folgen: „Es gibt jetzt die Pille für den Mann. Sie wird danach eingenommen – und verändert die Blutgruppe.“

Jürgen von der Lippe heißt bürgerlich Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp und begann seine Berufslaufbahn als Offizier bei der Bundeswehr, die er als Leutnant Dohrenkamp verließ. Danach wollte er als Journalist arbeiten und begann auf Rat von Redakteuren ein geisteswissenschaftliches Studium: Germanistik auf Lehramt. Das brach er in Berlin schließlich ab.

Dort begann von der Lippe als Sänger und Komiker. Zuerst erlebte er einen fast schon tragischen Flop: Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der „Gebrüder Blattschuss“, doch verließ er die Band, weil er in ihr keine Perspektive sah. Kurz nachdem von der Lippe raus war, brachte Blattschuss die „Kreuzberger Nächte“ heraus und gingen damit in den Charts durch die Decke. Aber von der Lippe war raus. Doch er machte weiter. Bis ihm mit „Guten Morgen, liebe Sorgen“ der Durchbruch gelang, verschaffte er sich durchs Fernsehen Bekanntheit.

Seine große Epoche im Fernsehen waren die 80er. Kein Zufall. Denn in dieser Zeit revolutionierten die Privaten, vor allem RTL, die Unterhaltung. Staatstragendes Bildungsfernsehen a la „Einer wird gewinnen“ war out. Die Leute wollten nicht mehr sehen, wie Lehrer aus Dublin Gemälde ihren Epochen zuordneten. Lockere Moderatoren in Shows, die Chaos zuließen, waren gefragt. Die Stunde Jürgen von der Lippes war gekommen.

Jürgen von der Lippe stand im WDR für Innovation. Noch heute Kultcharakter hat seine Talkshow „So isses“, die von 1984 bis 1989 lief. Gäste lud er nur ein, wenn er auf sie auch Bock hatte. Davon profitierten die Zuschauer. Denn die Chemie zwischen Moderator und Gästen stimmte. „So isses“ wurde auch zum Sprungbrett für die Komiker Tom Gerhardt und Gerd Dudenhöffer, der als fester Sidekick beim Öffnen der Zuschauerpost auftrat – da kam dann auch Kameramann Günni ins Spiel, dessen schnoddrige Art selbst schnell Kultcharakter erwarb.

1986 war dann endgültig die Zeit für den Wachwechsel gekommen. Die großen Showmaster wie Joachim Kulenkampff und Blacky Fuchsberger traten ab, von der Lippe nahm den frei werdenden Platz am Samstagabend ein: mit Donnerlippchen. Doch die Spiele waren zu herb für den Sendeplatz, um den seinerzeit noch ein großes Aufsehen gemacht wurde – die Sprüche waren ebenfalls zu derb, das Geheule im Föhjetong zu groß und nach nur 15 Sendungen war schon wieder Schluss.

Doch kurz danach kam von der Lippe mit „Geld oder Lippe“ zurück. Die Kuppelshow hielt sich neun Jahre auf dem begehrten Sendeplatz, in den ersten drei Jahren lief sie am Donnerstagabend. Die Show erhielt auch den Grimme-Preis, was Jürgen von der Lippe mit Jan Böhmermann verbindet – aber an einem Geburtstag sollte man die dunklen Seiten eines Menschen nicht überbetonen.

Zumal dann nicht, wenn der sich 75 Jahre lang treu geblieben ist. Der WDR schneidet ihm „Ficken“ raus, weil der Sender das Wort für zu anstößig hält. WDR5 schmeißt ihn aus einer Show, weil die verantwortliche Redakteurin woke ist und in ihrer Weltsicht nicht von zu viel Publikum gestört werden will. Doch Leutnant Dohrenkamp macht weiter. In diesen Tagen ist eine Tournee des nun 75-Jährigen zu Ende gegangen – nächstes Jahr will er sie fortsetzen. Nur „Gute Morgen, liebe Sorgen“ singt er nicht mehr. Die Leute kennen den Text und er kann sie nicht mehr überraschen.

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