Journalisten reden gern darüber, welche „Geschichten“ sie schreiben, recherchieren, dem Publikum präsentieren. Das führt bei den Lesern häufig zu Irritationen: „Geschichten“, das klingt nach „erfunden“, nicht so ganz der Realität entsprechend, geschönt, zurechtgebogen, auf der schmalen Grenze zum Märchen wandelnd: ist Baron von Münchhausen wirklich auf einer Kanonenkugel durch die Lüfte geritten?
Journalismus als Teil der Unterhaltungsindustrie
So funktioniert das Gewerbe. Puristen verstehen sich als seriöse Welterklärer: WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn hat die Rundfunkgebühr zur „Demokratieabgabe“ hochgejubelt. Aber seine Stellenbeschreibung offenbart, wie rutschig der Boden ist: Als „Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung“ wird er beim WDR geführt; ein echter Tausendsassa, der sich auf der Liane vom Baum der faktischen Erkenntnis hinüberschwingt ins Genre der Unterhaltungs-Klamotte – und wieder zurück. Beim WDR, und nicht nur da, verschwimmt alles zur Unterhaltungsindustrie und ja: wollen nicht auch die Nachrichten unterhalten? Wen interessiert schon, dass der Gardasee ein gut gefüllter See ist und keine Trockenwüste, wenn man letzteres erfinden kann?
Jetzt, wo er das Sturmgeschütz aus dem Museum holen müsste, um die Demokratie vor der Zerstörung durch infantile Moralisten und grüne Lobbyisten zu verteidigen – jetzt hört man nur ein feuchtes pfffffft, ein fauliges Tönchen statt einem ordentlichen Donnerschlag. Es geht nicht mehr um einen CDU-Präsidenten, sondern um eine grüne Lichtgestalt. Die grüne Mission hat endgültig die News degradiert, zum störenden Beiwerk reduziert. Es geht nur doch darum, dem Wahren, Schönen und Grünen endlich zum passenden Klima zu verhelfen. Dumm nur, wenn die Haltung sich nicht mehr auszahlt. Bei der Spiegel-Gruppe brach 2022 der Umsatz in der Print- und Digitalvermarktung prozentual zweistellig ein. Auch die Fernsehproduktion musste kräftig Federn lassen.
Andere Zahlen durch andere Köpfe
Wenn die Zahlen nicht stimmen, rollen die Köpfe, in diesem Fall der von Steffen Klusmann (57). Er war seit Januar 2019 Chefredakteur des Spiegel, jetzt wird er durch den Leiter des Berliner Büros Dirk Kurbjuweit ersetzt. Klusmann hat eine glänzende journalistische Karriere hinter sich, nachdem er zuvor dieselbe Position bei dem zur Spiegel-Gruppe gehörenden Manager Magazin hatte. Davor war er unter anderem Chefredakteur der Financial Times Deutschland, der Gruner+Jahr-Wirtschaftsmedien und stellvertretender Chefredakteur des „Stern“. Nach außen trat Klusmann kaum auf; er wirkte in der Redaktion moderierend. Damit überstand er die Relotius-Krise – der gleichnamige Reporter Claas Relotius hatte wunderbar zu lesende Geschichten geliefert, die mit Reporter-Preisen überhäuft wurden – und von der ersten bis zur letzten Zeile erfunden waren. Wie auch zahlreiche weitere „Geschichten“ anderer Autoren.
Klusman war einer der Vorreiter dieses Haltungs-Journalismus. Sein größter Verdienst ist, dass er dies in die Welt des vermeintlich drögen und bis dato faktenorientierten Wirtschaftsjournalismus einbrachte. Die Financial Times beglückte Deutschland mit einem Wirtschaftsjournalismus, der endlich auf nüchterne Zahlen verzichtete zugunsten wirkungsreicher Könnte-so-sein-Storys. Die FTD wurde schnell beliebt, das langweilige Handelsblatt gab flugs seinen Slogan „Substanz entscheidet“ auf und begab sich erfolgreich auf die Überholspur ins Reich des fiktionalen Journalismus. Die FTD setzte sich nicht durch, aber Klusmans farbiger Journalismus verdrängte Kopf für Kopf die Betonschädel der Faktenjäger und Faktenchecker, die den Spiegel tatsächlich zu einer Institution des faktenorientierten Journalismus gemacht hatten.
Kein kluger Kopf mehr bei der FAZ
Es ist kein Spiegel-Phänomen. Auch die FAZ hat den Haltungsjournalismus als neues Leitbild übernommen. Früher steckte hinter der Zeitung „ein kluger Kopf“. Auch die FAZ bemüht diesen Slogan nur noch eher müde, dann und wann. In einer schön anzusehenden Kampagne aus 2021 erklärte ein junges Model warum die FAZ ihr Blatt sei: „Weil ich eine Haltung zu Themen haben will und nicht bloß einen Wissensstand“. Wissen, also Fakten, sind nur noch das Beiwerk; denn „Freiheit beginnt im Kopf“, so die Reklame. Die neue Freiheit der FAZ bedeutet, die Wirklichkeit der Haltung unterzuordnen. Mittlerweile hat die FAZ diese Kampagne nach Protesten der noch verbliebenen Leserschaft eingestellt. Ihre Auflage ist auf rund 155.000 Exemplare geschrumpft; das eigene Druckhaus wird aufgegeben und das früher führende Blatt kann so nebenbei bei der Offenbach Post mitlaufen: Für das frühere Weltblatt reicht es als Beiprodukt einer kleinen Lokalzeitung.
Die Welt meldet eine ähnliche Entwicklung für Adidas: „Erstmals haben Regenbogen-Werbekampagnen messbare wirtschaftliche Nachteile für die Firmen. So sank der Aktienkurs von Adidas, nachdem der Sportkonzern einen neuen Badeanzug mit männlichem Model beworben hat,“ soweit die schlichte wie richtige Analyse. „Adidas hat seine diesjährige Pride-Kollektion von dem südafrikanischen Designer Rich Mnisi gestalten lassen. Umstritten ist ein Badeanzug: eher biederer Schnitt, nichtssagendes Muster. Allerdings, und das ist der Aufreger, zeigt die Website auch ein männliches Model in der femininen Schwimmkleidung.“ Dagegen richtet sich der Protest von Frauen, die sich von Adidas herabgesetzt fühlen. Schlichte Gemüter könnten meinen, Badeanzüge müssten den Käuferinnen gefallen, sie zum Kauf animieren. Weit gefehlt. Die Konsequenz, so weit sie die Welt einfordert: „Jetzt, unter Druck, müssen die Unternehmen Prinzipientreue zeigen.“ Soll also Adidas Werbung, die verärgert, so lange konsequent beibehalten, bis sie den weiblichen Kunden irgendwann gefällt? Das ist neu.
Werbung erzählt Geschichten, macht Aschenputtel zur Prinzessin ganz ohne Kuss, allein durch den Kauf eines Kleidungsstücks, weswegen Claas Relotius neuerdings auch bei einer Werbeagentur angeheuert hat – da gehört er hin. Tragisch nur, dass er auch dort nicht mehr erfinden soll. Verkauft wurde in der Werbung bislang eine Welt der Träume; Eskapismus, und immer ist der Kaufentscheid die Lösung des empfundenen Mangels: Beleibte werden dünn, Unansehnliche attraktiv, das Haar füllig, der Traum Wirklichkeit. Aber neuerdings, keinesfalls nur bei Adidas, soll auch die Traumwelt zerstört werden, wird Übergewicht erstrebenswert, Vertreter von Minoritäten zur neuen Norm, Diversität bei der Wahl des Geschlechtspartners Pflicht, die Not der Transsexualität erstrebenswert. Armer Relotius! Welche Geschichten kann er noch erfinden?
Was tun mit der lästigen Wirklichkeit?
Und wenn die Wirklichkeit nicht so will, die Zuschauer erkennen, dass bei ARD und ZDF schon der Wetterbericht Manipulation ist, hinter der FAZ Haltung Wissen ersetzt, Relotius die besten Spiegel-Geschichten schreibt und Werbung abstoßend statt einladend wirkt?
„Eine junge Mutter in Elternzeit aus dem Job zu drängen, würde so gar nicht in das Selbstbild des Gütersloher Medienriesen passen, der sich nach außen stets für Diversität und einen höheren Frauenanteil in Top- und Führungspositionen einsetzt,“ kommentiert der Mediendienst Meedia. So ist das eben, wenn Diversität auf Kompetenz, Arbeitsrecht auf Managementnotwendigkeit trifft. Das wird teuer. In diesem Fall nur für die Konzernmutter Bertelsmann, der RTL gehört. und die Traummaschine RTL ist die neue Mutter vom Stern. Es wächst zusammen, was zusammen gehört.