Eines Tages war Tina Turner im Ramada-Inn-Motel in Dallas aufgetaucht, im blutverschmierten Kleid, mit 36 Cents in ihrer Tasche und einer Mobil Card. Gerade hatte ihre Ehe mit Ike Turner den unvermeidlichen Endpunkt gefunden. Aus ihrem geplanten Konzert wurde nichts, so, wie sie von ihrem gewalttätigen Ehemann zugerichtet worden war. Der Hotelmanager gab ihr ein Zimmer und postierte einen Wachmann davor, falls Ike herausfinden sollte, wo sie war. Die Sängerin hatte versprochen, ihr Zimmer zu bezahlen, sobald sie das konnte. Es begann die harte Zeit der Scheidung, in der Turner zeitweise auf die Fürsorge zurückgreifen musste. 500.000 Dollar Schulden wollten auch noch abbezahlt sein. In solchen Momenten zeigt sich, für jeden sichtbar, die innere Kraft eines Menschen.
Doch wer war Tina Turner eigentlich? Geboren wurde sie als Anna Mae Bullock, als Nachfahrin von Sklaven, wie man zwischenzeitig durch genealogische Studien erfuhr. Aber das lag lange zurück, als Anna Mae am 26. November 1939 in Brownsville, Tennessee, in einem der überfliegbaren Staaten des Mittleren Westens geboren wurde. Sie war laut ihrer Autobiographie ein ungewolltes, ungeliebtes Kind aus einer problematischen Ehe. Aber Tina Turner machte nie viel aus ihrem vermeintlichen Opferstatus, selbst dann nicht, als sie selbst in einer dysfunktionalen Ehe mit einem von ihr vergötterten, aber leider kokainsüchtigen, gänzlich unkontrollierten Mann geriet und sich endlich daraus befreite.
Anna Mae hatte den Gitarristen Ike Turner in einem Nachtclub in St. Louis gehört, worauf sie beinahe in eine Trance fiel und unbedingt für ihn singen wollte. Das war eine der wenigen Sachen, die sie konnte – und wollte. Zu Tina Turner wurde sie erst Jahre später, als sie die Single „A Fool in Love“ einsang, eine gefällige Blues-Variation. Bis zum größten Hit des Duos Ike & Tina Turner sollten es noch elf Jahre sein. Die Cover-Version des Rocksongs „Proud Mary“ von John Fogerty wurde zum Markenzeichen, das Tina immer wieder mit legendärem Aplomb vortrug, mit wie zum Abschied winkendem Arm, einer gewaltigen Detonation an Klang samt genau abgestimmter Choreographie.
Das konnten wenige wie Turner: sich weiblich, aber doch ausdrucksvoll bewegen. Sie war eine Art eleganter Vulkan. Einer ihrer letzten Songs, den sie mit Ike aufnahm, hieß „Delilah’s Power“ und zeigte, dass es in dieser Ehe vielleicht doch nicht nur um einen Kult des überlegenen Mannes gegangen war, denn „nicht einmal Samson konnte Delilahs Macht bestreiten“. Über Jahre gehörte die körperliche und seelische Misshandlung zu Turners Alltag. Sie schämte sich später, dass sie so lange für ihre Lösung aus dieser Ehe gebraucht hatte.
Naturgewalt mit Tonnen an Bühneninstinkt
Eigentlich geht es im Text von „Proud Mary“ um einen Raddampfer auf dem Mississippi, und das Leben auf ihm verströmt immerhin etwas Freiheit für die Malocher im Gegensatz zu Jobs an Land. Ferne Erinnerungen an den alten, armen Süden der USA. Wichtig für uns ist: Es ist ein Lied über etwas durchaus Liebenswertes, Faszinierendes, Begeisterndes und ragt damit heute wie ein lebendes Fossil in eine Musikkultur hinein, die meist nur noch narzisstisch um das Subjekt, dessen Empfindlichkeiten und Verletzungen kreist. Wokistan lässt grüßen.
1976 begann Turner ihre Solokarriere, sang jahrelang in Hotels und Clubs. 1982 war sie aber auch eine der ersten, die einen Videoclip auf dem jungen Musiksender MTV unterbrachte. Doch die Starzeit von Turner begann erst mit der Single „Let’s Stay Together“, die ihre typische Mischung aus sattem Gefühl und emotionaler Kraft ins Rollen brachte. Es war ein Überraschungserfolg. „What’s love got to do with it“ wurde ein weiterer. Es folgte ein Duett mit David Bowie und manches, was den neuen entspannten, solide hedonistischen Geist der 80er-Jahre spiegelte. Der Drogenrausch der 70er („Acid Queen“) wurde sanft überzuckert. Auch Tina Turners Stil wurde eleganter, damenhafter mit dem Gewinn der Jahre. Ihr charakteristisch blondierter Struwwelkopf blieb, wurde aber mit der Weile immer welliger und weicher.
Mit der Weile kehrte sie zu ihren hart-rockigen Ursprüngen zurück, bis sie in „Simply the Best“ die Synthese aus versöhnlichen 80ern und hartem Rock fand. Das fiel ihr als Naturgewalt mit Tonnen an Bühneninstinkt leicht. Die Röcke konnten dabei noch immer nicht kurz genug sein. Verschämt oder prüde war sie vermutlich nie gewesen. Die Zeit gab auch keinen Anlass dazu.
Sie war dabei größer in Europa als in den USA, wo Madonna und andere sie leicht an Popularität schlugen. Und das war vielleicht der Grund, dass es sie am Ende erst nach Deutschland, dann in die Schweiz zog. 1985 lernte sie ihren zweiten Mann, den Schweizer EMI-Agenten Erwin Bach kennen, der sie am Flughafen Düsseldorf abholte und am Ende nach Küsnacht brachte, wo sie nun nach längerer Krankheit verstarb. Zuvor lebten Turner und Bach acht Jahre in Köln, ab 1994 dann in der Schweiz.
Sie brauchte keine BLM-Kampagne, um sie selbst zu sein
2009 war sie das letzte Mal auf großer Tournee, sang und tanzte in 180 Konzerten auf der ganzen Welt. 1988 hatte sie die „Break Every Rule World Tour“ unternommen und 180.000 Brasilianer aller Altersstufen in einem Fußballstadion in Rio de Janeiro vereint. Das war damals Weltrekord, und Turner war damals schon alt genug, um Großmutter zu sein. 2019 der letzte größere Auftritt, bei einer Musical-Aufführung zu ihren Ehren. Seltsame Koinzidenz: Die Lebenskraft in Person tritt ab, das Leben siecht dahin. Ob auch ihr Leiden in irgendeiner Weise mit der Pandemie zu tun hatte, ist nicht bekannt. Turner hatte an Krebs gelitten und sich durch falsche Medikation ein chronisches Nierenleiden zugezogen, das allerdings durch die Spenderniere ihres zweiten Manns gelindert werden konnte.
Mick Jagger, ein weiterer Duettpartner, würdigte sie als „inspirierend, warmherzig, lustig und großzügig“: Sie habe ihm viel geholfen, als er jünger war. Elton John sprach von einer „totalen Legende“.
Tina Turner war in den 80er-Jahren ohne Zweifel zur ersten Frau von Rhythm and Blues, Soul und Rock geworden. Viele folgten ihr nach, erreichten aber kaum je ihre urtümliche Verbindung von Gesang und Körperausdruck. Dass ihre Hautfarbe schwarz war, gereichte ihr nie zum Nachteil. Es war auch kaum je ein politisches Bekenntnis von ihr zu hören. Sie lebte ihr Leben, sah es aber nicht als Exempel für andere, weder im Guten noch im Bösen. Sie brauchte keine Black-Lives-Matter-Kampagne, um „roh, kraftvoll, unaufhaltsam, unumwunden sie selbst“ zu sein (Barack Obama über Turner). Auch Alain Delon – heute selbst nicht in der besten aller Lagen – war ein Fan und wird es wohl bleiben, weil sie „vermutlich einfach die Beste“ war.