Vielleicht lohnt sich doch eine Rückkehr zu den alten Zeiten, was demokratische Wahlen und die Berichterstattung darüber angeht. Ein altgedienter Journalist erinnerte sich nun im griechischen Fernsehen an die Wahlen, mit denen seine Arbeit auf diesem Feld Mitte der 1980er-Jahre begonnen hatte. Damals gab es weder Exit-Poll-Umfragen noch Prognosen. Stattdessen versuchte man, von Parteiversammlungen ausgehend zu schätzen, wieviele Personen wohl auf einen Quadratmeter passten, um daraus die Popularität der Parteien und Kandidaten zu errechnen. Mehr Leidenschaft gab es damals gratis dazu. Über der Urne flogen schon einmal die Fäuste, wenn ein Parteimann glaubte, der andere habe betrogen.
Der griechische Wahlabend brachte nun einige Überraschungen mit sich, über die man sich in der alten Zeit wohl weniger gewundert hätte. Die konservative Nea Dimokratia (ND), die seit 2019 regiert, verlor nicht im Vergleich zu den letzten Wahlen, konnte sogar leicht zulegen auf 40,8 Prozent und 145 Sitze, also zehn von der Mehrheit entfernt. Das kann sich auch der Premier Kyriakos Mitsotakis persönlich zuschreiben. Seine Politik ist damit bestätigt, auch wenn er – bei dieser Wahl wie 2019 – keine absolute Mehrheit errang.
Dagegen hat das radikale Linksbündnis Syriza des Ex-Premiers Alexis Tsipras deutlich verloren (20,1 Prozent) und ist der eine große Verlierer des Abends. Der andere Verlierer sind einmal mehr die Demoskopen und Umfrageinstitute, die durch die Bank falsch lagen mit ihren Einschätzungen. Der Abstand ND – Syriza lag am Ende nicht bei sechs oder sieben, sondern bei runden 20 Prozentpunkten. Überschätzt wurden vor allem die Parteien der radikalen Linken, so auch die Partei Mera25 von Ex-Finanzminister Gianis Varoufakis, die nun außerhalb des Parlaments gelandet ist. Und dabei hatte Varoufakis noch von einem „magischen Moment“ hinter dem Wahl-Paravent gesprochen. Nun wurde er selbst zum weggezauberten Kaninchen.
Vermutlich ist eine Variante der Schweigespirale an der verzerrten Demoskopie schuld: Weil es viel trendiger ist, zu sagen, dass man eine linksradikale Partei wählt, werden konservative, rechte und inzwischen sogar althergebrachte sozialistische und kommunistische Mitbewerber tendenziell abgeblendet. Eine bedenkliche Folge einer perversen Form der Cancel Culture, die in diesem Wahlergebnis so deutlich wie selten sonst zum Ausdruck kommt. Viel war auch in dieser Kampagne von „toxischen“ Verhaltensweisen die Rede, die man allerdings auch als gesunden politischen Streit entlang den Interessen der einfachen Bürger (vulgo: Populismus) beschreiben kann. Die Rede von toxischen Diskursen scheint dieselben erst richtig gründlich zu vergiften.
Sozialist Androulakis wittert schon wieder Morgenluft
Nikos Androulakis, der Vorsitzende des Pasok, hat vielleicht etwas zu viel Morgenluft gewittert. Auch seine Partei wurde von den Demoskopen leicht unterbewertet. Die griechischen Sozialisten haben die Zehn-Prozent-Grenze von unten überschritten, sind aber damit noch nicht die wichtigste Partei links der Mitte geworden. Der Kreter Androulakis sieht seine Partei als „echten Gegenspieler“ der Konservativen. Er hofft, verständlich für die langjährige Regierungspartei Griechenlands, das die Wähler nun in Scharen zurückkehren werden und ebenso die alten Zeiten. Aber das ist alles andere als sicher. Es sieht derzeit noch nicht einmal wahrscheinlich aus.
Der Wahlabend brachte auch das erste Telephonat zwischen Androulakis und Mitsotakis, die immerhin die kretische Herkunft miteinander teilen. Allerdings hatte sich ihre Beziehung spätestens von dem Zeitpunkt eingetrübt, als herauskam, dass der Geheimdienst Androulakis in seiner Funktion als EU-Abgeordneter abgehört hatte. Nun hatte sich Mitsotakis die Aufsicht über den Geheimdienst 2019 persönlich zugelegt. Insofern bleiben zumindest Fragen, welche seine Rolle bei den vielfachen Abhöraktionen von Politikern und Journalisten war.
Auch das schwere Bahnunglück, bei dem im März 57 Menschen ums Leben kamen, zahlte nicht gerade auf die Siegeschancen der regierenden Konservativen ein, auch wenn die Desorganisation in diesem Bereich älter ist als die aktuelle Regierung. Auch die steigende Inflation zahlte nicht ein. Umso mehr darf also dieser Sieg der ND erstaunen, was sicher zunächst auf die greifbaren Erfolge der Regierung in der Wirtschaftspolitik und beim Grenzschutz zurückzuführen ist. Die touristische Saison dieses Jahres gilt übrigens schon jetzt als Erfolg, allein weil die staatlichen Beschränkungen weggefallen sind.
Bürgerpartei von 2019 kommt auf sechsten Platz
Man könnte nun sagen, dass die einstige Schuldenkrisen- und Protestpartei Syriza logischerweise drastisch verlor, nachdem Griechenland sein Krisenprogramm (zusammen mit allen Verpflichtungen) auch offiziell beendet hat. Vielleicht ist das der Grund, dass zunächst keine Personaldiskussion um den Syriza-Chef Tsipras entstehen wollte. Oder es lag am Schock. Auch die doktrinäre KP Griechenlands konnte hinzugewinnen, vielleicht weil sie dazu aufrief, durch eine Stimme für sie das griechische Volk zu stärken – nicht andere Völker wie der Syriza.
Bis auf einen sind alle Wahlkreise der ND zugefallen. Die ND bleibt mit gut 40 Prozent auch die größte Mitte-rechts-Partei Europas. Das liegt allerdings auch daran, dass sie bis heute der Meinung ist, dass keine wesentlichen Bewegungen „rechts von ihr“ bestehen sollen. Es gibt sie freilich, aber nur eine Partei wird dieses Mal sicher ins Parlament einziehen, die national-konservative Partei „Griechische Lösung“ (Elliniki Lysi). Sie wurde vor allem am Evros und auf einigen Inseln stärker gewählt.
Daneben errang die erst 2019 gegründete Bürgerpartei Niki („Sieg“) aus dem Stand beachtliche 2,9 Prozent der Stimmen, verpasste aber einigermaßen knapp den Einzug ins Parlament. Niki duldet keine ehemaligen Abgeordneten in ihren Reihen und versteht sich als authentische, patriotische Stimme des griechischen Volks, die sich weder rechts noch links einordnet und sich vor allem auf christliche Werte stützen will. Ganze 16 Prozent des Wahlergebnisses fallen auf Parteien, die wegen der 3,5-Prozent-Hürde nicht ins Parlament einzogen. Das ist schon der erste Bonus, der aus der Zerstrittenheit oder der hohen Individualität der griechischen Wähler resultiert.
So lange wählen lassen, bis das Ergebnis brauchbar ist?
Kyriakos Mitsotakis, der die diesbezügliche Abneigung vieler Griechen zu teilen scheint, hat bisher keine Koalitionsverhandlungen angekündigt. Stattdessen gilt als ausgemacht, dass es zu einem zweiten Wahlgang am 25. Juni kommen wird, damit erneut ein Bonus für die größte Fraktion zur Anwendung kommen kann, denn die ND in der verflossenen Legislatur mit einfacher Mehrheit beschlossen hat. Das hat in der Tat ein Geschmäckle von „so lange wählen lassen, bis das Ergebnis passt“, wie sogar der kaderförmige KP-Chef Koutsoumbas kritisierte. Wenn sich das heutige Ergebnis noch einmal wiederholen lassen sollte, hätte Mitsotakis Ende Juni eine Mehrheit gewonnen, mit der er allein weiter regieren kann. So käme er um die Koalition mit dem ungeliebten Pasok herum. Mitsotakis’ Behauptung, die Wähler hätten eine Alleinregierung der ND verlangt, lässt sich freilich nicht bestätigen. Erst durch die Hinzufügung des Bonus werden seine 41 Prozent ja zur Mehrheit aus eigener Stärke.
Trotzdem bleibt die Frage, welche Politik Mitsotakis diese Stabilisierung eingebracht hat, die kaum einer traditionellen Volkspartei in Europa noch gelingen will. War es vielleicht doch der Vergleich mit dem „strongman“ Erdogan, der bald seinerseits wiedergewählt werden dürfte? Mitsotakis hatte in einer Rede kurz vor den Wahlen gesagt, dass der mutmaßliche Sieg des türkischen Präsidenten auch Griechenland vor das Erfordernis stellt, eine stabile und möglichst entschieden auftretende, standfeste Regierung zu besitzen. Das zielte natürlich auf seine eigene Partei ab, die aus der Standfestigkeit in außenpolitischen Krisen ein besonderes Merkmal gemacht hat. Die vorangehende Syriza-Regierung stand demnach für offene Grenzen zur Türkei und auf dem Balkan und eine generelle Schwäche gegenüber der Türkei, während die ND Griechenland erneut zum „Vaterland mit Grenzen zur See, auf dem Land und in der Luft“ gemacht habe, so der Premier.
Mitsotakis kann an dieser Stelle auch militärisch einiges vorweisen: den Erwerb von französischen Rafale-Fliegern und Belharra-Fregatten, dann die bilateralen Verteidigungsabkommen mit Frankreich und den USA, schließlich die Vereinbarung der ökonomischen Zonen mit Italien und Ägypten und damit einhergehend die Ausweitung der Seegrenzen auf zwölf Meilen von Korfu im Nordwesten bis Kreta im Süden. Symbolpolitik, mögen einige sagen, aber sicher handelt es sich auch um Signale der Stärke, die man auch mit dem fragilen Verhältnis zur Türkei in Verbindung bringen kann. Das soll nun angeblich auch besser werden, weil sich die beiden Länder in Sachen Erdbeben und Zugunglück unbürokratisch beigestanden haben. Man wird sehen, wie weit diese Entspannungssignale tragen, die der Außenminister Nikos Dendias noch kurz vor der Wahl aussandte.