Was Deutschland vor rund einem Vierteljahrhundert schon einmal war, scheint es nun wieder zu werden: die zwar in absoluten Zahlen größte Volkswirtschaft, aber eine der am wenigsten vitalen. Vermutlich gilt das tendenziell für Europa insgesamt im globalen Vergleich. Aber Deutschland dürfte innerhalb Europas in besonderem Maße zu den Verlierern gehören. Die Europäische Kommission gibt in ihrer jüngsten Frühjahrsprognose zwar für die EU insgesamt Rezessionsentwarnung und rechnet mit 1,0 Prozent BIP-Wachstum im laufenden Jahr. Aber: Mit nur 0,2 Prozent wird Deutschland, die größte Volkswirtschaft der EU, wohl eines der Schlusslichter sein. Und der Internationale Währungsfonds – der sich üblicherweise nur mit volkswirtschaftlichen Sorgenkindern befasst – prophezeit Deutschland auch in den nächsten Jahren eher schwache Aussichten.
Ein wohl noch wichtigeres Indiz für den Abstieg Deutschlands noch vor den reinen BIP-Wachstumsdaten ist die geringe Zahl neu gegründeter Unternehmen mit erwartbarer Relevanz – im ersten Quartal 2023 nur noch 33.100, das sind 5,5 Prozent weniger als im Vorjahresquartal, welches schon das schwächste in diesem Jahrhundert war. Dazu kommt, dass auch weniger ausländische Unternehmen in Deutschland investieren – während die Zahl für Europa insgesamt steigt. Das ist der Plattformeffekt: In ein wenig vitales Land zieht es auch die vitalen, investitionslustigen Unternehmen von außen nicht.
Deutschland ist nach einem historisch gesehen recht kurzen Zwischenhoch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, das nicht etwa durch die damalige Regierung Merkel, sondern durch die drastischen „Agenda 2010“-Reformen ihres Vorgängers Gerhard Schröder angestoßen worden war, nun wieder das, was es um die Jahrtausendwende war: eine innerlich morsch und müde gewordene, durch einen überbordenden Sozialstaat strukturell überlastete Volkswirtschaft, die die Voraussetzungen wirtschaftlicher Vitalität verliert, während seine politische Führung den Steuerzahlern und Sparern immer neue Lasten aufbürdet – etwa in Form von riesigen Neuverschuldungspaketen, die man euphemistisch „Sondervermögen“ nennt, oder in Form von Klimaschutzgesetzen, die für Immobilienbesitzer enorme Sanierungskosten bedeuten.
Die Lage ist noch deutlich fataler als vor einem Vierteljahrhundert: denn nicht nur die Voraussetzungen ökonomischer Vitalität selbst sind in kurzer Zeit wieder verspielt worden, sondern auch das Bewusstsein für ihre Notwendigkeit ist abhanden gekommen. Nicht nur die absoluten Belastungen des Sozialstaats (die Sozialquote liegt dauerhaft bei deutlich über 30 Prozent) sind deutlich gewachsen, sondern auch die Sorglosigkeit der politisch Verantwortlichen, die wirtschaftlichen Leistungsträger zu belasten – zuletzt vor allem unter dem Leitstern des Klimaschutzes aber auch durch eine de facto uneingeschränkte Armutszuwanderung direkt in die Sozialsysteme.
Der Ökonom Thomas Mayer, Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Instituts fasste die Lage kürzlich als „Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells“ zusammen: „Wollte man das über viele Jahre erfolgreiche Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft auf den Punkt bringen, könnte man sagen, es bestand daraus, Können mit Fleiß und kostengünstiger Energieversorgung so zu verbinden, dass daraus Weltmarktführer wurden. Seit einiger Zeit werden jedoch die Träger dieses Modells schwächer.“
Diese drei Fundamente der deutschen Wirtschaft, so Meyers These, erodieren. Der mistdiskutierte und augenfälligste Zerfallsprozess ist natürlich derzeit die extreme Verteuerung der Energieversorgung. Der internationale und auch innereuropäische Vergleich zeigt, dass deutsche Politiker dies eben längst nicht nur auf Putins Angriffskrieg schieben können. Mayer: „Für elektrischen Strom müssen deutsche Unternehmen den fünffachen Preis amerikanischer und den achtfachen Preis chinesischer Unternehmen bezahlen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, zwingt die Politik der Industrie Technologien auf, in denen andere Länder Vorteile haben. Dazu gehören Elektroheizungen ebenso wie Autos mit Elektroantrieb. Kein Wunder also, dass in den letzten Jahren die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen im Ausland die Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland übersteigen.“ Der Atomausstieg und die Tatsache der dadurch gestiegenen Atomstromimporte aus Frankreich bleibt bei Mayer sogar unerwähnt.
Die „Erosion des Könnens“ – vielleicht der beängstigendste Verfallsprozess, da nur sehr schwer und allenfalls extrem langfristig umkehrbar – kann man an den Schulen und Hochschulen beobachten. Die jüngste IGLU-Studie über die schlechter werdende Lesefähigkeit der Grundschüler in Deutschland bestätigt die von Mayer zitierten Daten anderer Vergleichsstudien. Unser Schulsystem schafft es offenkundig nicht, viele Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien auf die ökonomisch nötigen Bildungsstandards zu bringen. Kommunikations- und Rechenfähigkeit sind die Basis jeglichen ökonomisch relevanten Könnens.
Aber nicht nur das Können nimmt ab, sondern wohl auch das Wollen. Mayer stellt auch eine „Erosion des Fleißes“ fest. Denn der gelte „in einer Gesellschaft, die mehr an der „Work-Life-Balance“ als an Arbeit interessiert ist, nicht mehr als Tugend“. Das ist sicher kein allein deutsches Phänomen. Aber in einem Land, das relativ rohstoffarm ist und das traditionell für den Fleiß seiner Menschen bekannt war und gerühmt wurde, fällt eine solche Mentalitätswende eben besonders ins Gewicht. Zumal sie sich unmittelbar in eine durchschnittliche jährliche Arbeitszeit übersetzt, die 30 Prozent unter der amerikanischen und 70 Prozent unter der chinesischen liegt, wie Mayer mit einer eindrucksvollen Grafik unterlegt.
Niemand der bei Verstand ist, kann heute noch für Deutschland Wachstumsraten wie in den Wirtschaftswunderjahren oder im gegenwärtigen China erwarten. Das ist nicht nur unmöglich, sondern auch gar nicht zu wünschen. Um das zu erkennen, muss man nicht die Untergangsprophezeiungen der „Letzten Generation“ oder anderer hysterischer Klimaaktivisten für bare Münze halten.
Nichts kann endlos größer werden, zumindest nicht in der diesseitigen, physisch begrenzten Welt. Erst recht nicht die Wirtschaft, weder die deutsche Volkswirtschaft noch eine andere oder gar die Weltwirtschaft. Wachstum im Sinne immer größerer Produktionszahlen und einer stetig steil nach oben weisenden Kurve des Bruttoinlandsprodukts kann wirklich nicht mehr das alleinige Kriterium der Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage sein – zumindest nicht in den hochentwickelten Volkswirtschaften. Das haben übrigens nicht die heutigen Apostel der „Klimagerechtigkeit“ und aller möglichen „Wenden“ als erste begriffen, sondern die Vordenker des Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft, Ökonomen wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow und vor ihnen schon John Stuart Mill, aber auch der größte deutsche Wirtschaftspolitiker des 20. Jahrhunderts Ludwig Erhard. Seine Maßhalteappelle der 1960er Jahre und späten Schriften bezeugen das. Wo die „Grenzen des Wachstums“ liegen, konnte der Club of Rome 1972 nicht korrekt vorhersagen, was ihm bis heute Häme einbringt. Niemand kann das wohl. Aber dass es solche Grenzen (in den Möglichkeiten der Natur, zu der auch der schaffende Mensch selbst gehört) gibt, sollte jedem mit gesundem Verstand begabten Menschen klar sein. Das Zeitalter der Verbrennung fossiler Energieträger wird natürlich enden, weil sie nur in begrenzter Menge rentabel auszubeuten sind. Aber dass dieses Ende durch globale politische Entscheidungen zum Schutz des Klimas dekretiert werde, wie es Deutschlands Regierung anstrebt, indem es selbst mit diesem Beispiel vorangeht, ist nach allgemeiner historischer Erfahrung eher unwahrscheinlich.
Die Nachrichten, dass die BIP-Wachstumsraten in Europa seit Jahren und Jahrzehnten in der Tendenz geringer werden, können und sollten also nicht grundsätzlich schockieren. Langfristig kann die Weltwirtschaft – zumindest die materielle Güter produzierende Industrie – nur auf dieselbe Art und Weise wachsen, wie auch ein Wald wächst. Kurt Biedenkopf, der letzte große deutsche Politiker, der noch in der Denk-Tradition Ludwig Erhards und des Ordoliberalismus dachte, gebrauchte dieses Bild des Waldes gerne für die Wirtschaft: Der wächst eben nicht immer weiter in den Himmel, sondern regeneriert sich selbst. Einzelne Bäume keimen auf, wachsen und sterben irgendwann wieder ab und machen Platz für neue.
Diese Vitalität des Werdens (und Vergehens) zu hegen, also den Übergang in eine nicht mehr stark und vielleicht irgendwann gar nicht mehr wachsende Volkswirtschaft zu ermöglichen, in der aber weiterhin unternehmerischer Erfolg der Fleißigen und Könner möglich bleibt und breiten Wohlstand erhält, das wäre eigentlich die Aufgabe einer klugen (Wirtschafts-)Politik in einem weit entwickelten Land wie Deutschland.
Im gegenwärtigen Deutschland scheint man stattdessen lieber auf das Schönreden der Erosion zu setzen. Oder diese gar als Vorbild auf dem Weg zur globalen Klimagerechtigkeit mittels „Degrowth“ zu verherrlichen.