In der Türkei wird es vermutlich zu einer zweiten Wahlrunde am 28. Mai kommen, um den neuen Staatspräsidenten zu bestimmen. Erdoğan war in den ersten Prognosen mit starken 58 Prozent gestartet, um dann immer weiter nachzugeben. Die Anhänger des Linkskemalisten Kemal Kılıçdaroğlu behaupten in den sozialen Medien, dass Erdoğans AKP die Teilergebnisse mit Mehrheiten für den Oppositionskandidaten systematisch anfechte, so dass dieselben nicht eingespeist würden.
Die eher oppositionsnahe Agentur Anka sah beide Hauptkandidaten schon früh unter 50 Prozent und nur durch wenige Prozentpunkte getrennt. Aber in allen Hochrechnungen führte Erdoğan. Nach Auszählung von 73 Prozent der Stimmen fiel Erdoğan auch bei Anadolu auf 49,9 Prozent. Das war gegen 23 Uhr (22 Uhr MEZ).
Kılıçdaroğlu schrieb auf Twitter: „Die Fiktion, die mit 60 Prozent begann, ist jetzt unter 50 Prozent gefallen. Unsere Beobachter in den Wahllokalen und die Beamten des Wahlvorstands sollten ihre Posten nicht verlassen. Wir werden heute Nacht nicht schlafen, mein Volk.“
Diese Auszählung lag schon nah an dem (immer noch) Zwischenergebnis des nächsten Morgen, das wie folgt aussah:
Erdoğan – 49,4 Prozent
Kılıçdaroğlu – 45 Prozent
Der Nationalist Sinan Oğan erreichte nach den meisten Hochrechnungen 5,2 Prozent. Sogar der von seiner Kandidatur zurückgetretene Linkskemalist Muharrem İnce konnte wohl 0,4 Prozent der Stimmen gewinnen.
Am Ende war Erdoğan offenbar doch in Istanbul geblieben. Seine Ankunft in Ankara wurde allerdings aufwendig inszeniert. Vermutlich ein reines Symbol, dass der Präsident den Platz in der Hauptstadt nicht so leicht räumen will.
Erdoğan tweetete: „Während die Wahl in einer so positiven und demokratischen Atmosphäre stattfand und die Auszählung der Stimmen weitergeht, ist der Versuch, die Ergebnisse übereilt zu verkünden, ein Eingriff in den nationalen Willen. (…) Ich fordere alle meine Freunde und Kollegen auf, in jedem Fall an den Wahlurnen zu bleiben, bis die Ergebnisse offiziell feststehen.“ Damit stilisierte sich der Präsident zum Gralshüter der Demokratie. Zugleich behält sich die AKP aber vor, das Ergebnis noch bis Dienstag anzufechten. Die Wahlbeteiligung lag angeblich bei 87 Prozent.
Stichwahl höchst wahrscheinlich
Damit wird es wohl zu einer Stichwahl kommen, bei der sich unter anderem die Wähler des Ultra-Nationalisten Oğan neu orientieren können. Aber auch die Islamisten von der Saadet-Partei, die bisher Kılıçdaroğlu unterstützten, könnten vielleicht noch zu Erdoğan überlaufen, der ihnen doch ideologisch näherstehen dürfte, wenn der Staatspräsident ihnen nur etwas entgegenkäme. Dass Erdoğan das nötig hat, steht aber ebenso wenig fest.
Bei den gleichzeitig durchgeführten Parlamentswahlen haben AKP und MHP eine deutliche Mehrheit erreicht, auch wenn die AKP deutlich um etwa sieben Prozentpunkte nachgab und nur noch etwa 35,5 Prozent der Stimmen erreichte. Dagegen konnte die linkskemalistische CHP drei Prozentpunkte dazugewinnen und kam auf ungefähr 25,5 Prozent. Die nationalistische MHP verlor einen Prozentpunkt auf nun zehn Prozent. Die konservative İyi-Partei blieb stabil bei etwa zehn Prozent. Erstmals im Parlament: Die grüne Yeşil Sol Parti (YSP), auf deren Liste auch Kandidaten der verbotenen pro-kurdischen HDP antraten mit rund neun Prozent. Andere Parteien scheiterten an der auf sieben Prozent abgesenkten Sperrklausel, etwa die der radikal-islamischen Milli Görüş nahestehende Refah-Partei (2,8 Prozent) und die sozialistische Arbeiterpartei der Türkei (1,7 Prozent).
Man kann sich allerdings fragen, was ein vielleicht doch noch gewählter Präsident Kılıçdaroğlu mit seinem Amt anstellen sollte: Er wäre mit einer unbequemen Mehrheit von konservativen Muslimen und türkischen Nationalisten konfrontiert. Zudem bräuchte er das Parlament, um die angestrebte Rückverwandlung von der Präsidial- zur Westminster-Demokratie zu vollführen.
Im Phoenix-Studio widmete man sich derweil der Frage, warum Deutsch-Türken so oft Erdoğan wählen. Der geladene Experte glaubt, dass sie vor allem der deutschen Gesellschaft eine Botschaft senden wollen, weil sie durch diese diskriminiert würden. Das ist zwar möglich, aber nicht sehr logisch. Eher schon stimmt es, dass die deutsch-türkische Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen Auslandstürken (etwa in den USA) weniger gebildet ist und eher aus ländlichen Regionen stammt, deren Einwohner ebenfalls eher Erdoğan und AKP unterstützen.