Tichys Einblick
Knappes Rennen in der Türkei

In der Türkei steht eine Richtungsentscheidung an

Es könnte ein knappes Rennen werden zwischen dem erzkonservativen Erdoğan und seinem kemalistisch-sozialdemokratischen Herausforderer Kılıçdaroğlu. Wo sich der Herausforderer als prowestlich präsentiert, verweist der Amtsinhaber ein weiteres Mal auf die Gemeinschaft der Muslime. Beide werden sich schwierigen Fragen zu stellen haben – vor allem was die Themen Wirtschaft und Migration angeht.

IMAGO / Depo Photos

Bis zum Nachmittag konnten 61 Millionen türkische Wähler an diesem Sonntag über die politische Führung ihres Landes entscheiden. Zu erwarten ist ein knappes Rennen zwischen Recep Tayyip Erdoğan und seinem Konkurrenten von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu – zumindest wenn die Umfragen nicht täuschen. In den letzten Wochen sprangen sie abrupt zwischen einem Sieg für die eine, dann wieder für die andere Seite hin und her. Abwechselnd erreichten so der Präsident und sein kemalistischer Herausforderer 50 Prozent und mehr der Stimmen. Die neueste Auswertung mehrerer Umfragen, die erst am Wahltag veröffentlicht wurde, sieht die Konkurrenten bei einem Abstand von einigen Hundertstel Prozent. Das könnte der Formelkompromiss für ein zerrissenes Land sein. Erdoğan liegt demnach bei 48,27 Prozent, während Kılıçdaroğlu äußerst knapp mit 48,29 Prozent führt.

Dem dritten verbliebenen Kandidaten, Sinan Oğan von der nationalistischen Ata-Allianz, werden um die drei Prozent zugetraut. Erst am 11. Mai zog ein vierter Bewerber um das Präsidentenamt, Muharrem İnce (ehemals CHP und Gründer der ähnlich gelagerten Memleket) seine Kandidatur zurück. Er hatte zuvor an Zustimmung eingebüßt, vermutlich zugunsten von Kılıçdaroğlu, der die Stimmen seines Lagers aufsaugte. Auch İnce steht auf den Wahlzetteln, und wenn Bürger für ihn abstimmen, müssen die Stimmen gezählt werden.

Es gibt aber ein wichtiges Manko bei allen diesen Umfragen: Die Stimmung der 3,4 Millionen Auslandstürken floss nicht in sie ein. Insofern könnten zumal sie einmal mehr den Ausschlag bei den Wahlen geben. Eines wird deutlich: Die säkulare Türkei hofft auf einen Wandel. So sehr, dass eine gewisse Spannung entsteht, wie sich vielleicht auch im deutschen Sindelfingen zeigte, als ein Kemalist zwei AKP-Unterstützer (zugleich seine Vorgesetzten) erschoss, nachdem man zuvor lange im Konflikt lag. Das ist eine extreme Zuspitzung, die man freilich in der Türkei kaum sah.

Zweischneidige Signale in der Migrationspolitik

Sollte er gewählt werden, dann wäre Kılıçdaroğlu der erste kemalistische Staats- oder Regierungschef seit Bülent Ecevit, der 2002 als Ministerpräsident abgewählt wurde. Von türkischen Kommentatoren wird hervorgehoben, dass eine Wahl Kılıçdaroğlus eine Annäherung des Landes an den Westen bringen könnte. Vor allem das erst im April erfolgte öffentliche Bekenntnis zu seiner alevitischen Herkunft und positive Signale in Richtung der Kurden werden als ermutigend hervorgehoben.

Erdoğan ist seit dem Jahr 2003 Ministerpräsident und bekleidet seit 2014 das neugeschaffene Amt des Staatspräsidenten. Er hat in seiner Regierungszeit keine Wahl auf nationaler Ebene verloren. Nach wirtschaftlichen Erfolgen in den Anfangsjahren, kämpft er seit einiger Zeit mit einer massiven Inflation und Wirtschaftskrise. Beobachter glauben, dass den nächsten Staatspräsidenten wohl oder übel ein Gang zum Internationalen Währungsfonds erwarten könnte.

Sein Gegenspieler Kemal Kılıçdaroğlu hat außer mit wirtschaftlichen Themen auch mit einer schärferen Migrationspolitik für sich geworben. Seit 13 Jahren führt Kılıçdaroğlu die republikanische CHP. Sein Bündnis will die Präsidialdemokratie wieder abschaffen. Und das steckt hinter der Parole, dass die Türken heute (und bei einer vielleicht nötig werdenden Stichwahl) auch über ihr politisches System abstimmen.

Allerdings sendet auch Kılıçdaroğlu durchaus gemischte Signale aus, was beispielsweise das für die EU wichtige Thema der Migration angeht. Das Thema ist wichtiger für die türkische Innenpolitik, als man hierzulande gemeinhin bemerkt. Die Flüchtlinge und Migranten belasten das gesellschaftliche Gewebe der Türkei. Auf der anderen Seite wurden viele von ihnen inzwischen eingebürgert, zum Teil in letzter Minute vor den Wahlen, wie Foreign Policy berichtet. Viele dieser „neuen Türken“ dürften dem AKP-Führer an den Urnen für die verliehene Staatsbürgerschaft danken. Man könnte süffisant sagen: In Erdoğans Türkei geht der Plan der deutschen Ampel auf, durch Einbürgerung treue Wähler zu bekommen. Für muslimische Einwanderer aus Afghanistan und Syrien ist die AKP eine logische Wahl.

Kılıçdaroğlu will die syrischen Flüchtlinge vermehrt in ihr Heimatland ausweisen. Damit ist auch Erdoğan beschäftigt: Zuletzt waren bereits 58.000 Syrer „freiwillig“ in ihr Land beziehungsweise eine türkisch besetzte „Sicherheitszone“ in dessen Norden zurückgekehrt. Daneben hat die Türkei im letzten Jahr 70.000 Afghanen ausgewiesen – auch ihre Rückkehr soll oft eine „freiwillige“ gewesen sein. Kılıçdaroğlu will so bald wie möglich ein Abkommen mit der syrischen Regierung abschließen und Botschafter mit Damaskus austauschen. Das wäre der nächste Erfolg von Baschar al-Assad bei seiner Rückkehr in die Staatengemeinschaft. Zuletzt hatte die Arabische Liga Syrien wieder als vollgültiges Mitglied bestätigt.

Beide Kandidaten müssen Sorgen der Türken aufgreifen

Auf der anderen Seite hat Kılıçdaroğlu den Europäern mit neuen Migranten gedroht, wenn die EU nicht für die „Häuser, Straßen, Schulen und Kindergärten“ der Migranten in der Türkei bezahlt. Bezahle die EU nicht, werde er die Tore öffnen: „Sie können gehen, wohin sie wollen.“ Diese Rhetorik Kılıçdaroğlus zeigt auch, dass hier zwei Kandidaten um die gleiche Klientel werben, der es allmählich reicht mit den Belastungen ihres Staates.

Wo Erdoğans Kandidatur neben seiner islamisch-konservativen AKP auch von der ultra-nationalistischen MHP und einigen Kleinparteien unterstützt wird, da haben sich hinter dem CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu mehrere, meist konservative Parteien in einer „nationalen Allianz“ vereint. Vor allem die kleinere kemalistisch-nationalkonservative İyi Parti („Gute Partei“) ist hervorzuheben. Dem Parteienbund gehören aber auch die noch kleinere konservativ-säkulare Demokrat Parti (DP) und die islamistische Saadet an, die als politischer Arm von Millî Görüş („Nationale Perspektive“) gelten kann, jener national-islamistischen Bewegung, die einst Erdoğans Mentor Necmettin Erbakan gründete. Insgesamt sechs Parteien sind so vereint. Daneben unterstützt auch die pro-kurdische HDP – deren früherer Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş noch immer in einer schlecht begründeten U-Haft sitzt – den Kandidaten Kılıçdaroğlu.

So bunt gescheckt auch dieses Oppositionsbündnis also ist, es hat Erdoğans AKP schon bei Bürgermeisterwahlen in Ankara und Istanbul geschlagen. Zuletzt schloss sich auch der AKP-Apostat Ali Babacan mit seiner neugegründeten konservativ-laizistischen Partei DEVA dem Bündnis an – auch sie eine Kleinstpartei mit derzeit nur einem Parlamentssitz. Doch das kann sich auch an diesem Sonntag ändern. Neben dem Präsidentenamt werden auch die Parlamentssitze neu verteilt.

Der Kandidat des Westens gegen den Kandidaten der Umma

Daneben sehen viele westliche Beobachter Kılıçdaroğlu als „berechenbaren“ Kandidaten an. Während Erdoğan sich im Dreieck zwischen USA, Russland und China eingerichtet und die Türkei als Akteur an verschiedenen Kriegsfronten (Syrien, Irak, Libyen) etabliert hat, wird seinem Konkurrenten zugetraut, hier wieder mehr auf dem Pfad des Westens zu schreiten.

Der Nahost-Experte am American Enterprise Institute Michael Rubin hält die Wahlen in der griechischen Tageszeitung Kathimerini für einen Knotenpunkt. Den amtierenden Präsidenten beschreibt der Analyst, wenig überraschend, als Gegenbild zu Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk: Wo Kemal sich eine europäische, laizistische Türkei wünschte, treibt Erdoğan eine islamische Türkei als Führungsmacht im Nahen Osten voran. Bei einem Wahlsieg Erdoğans malt Rubin die Annexion der besetzten Teile Zyperns oder die Landung auf einer Ägäis-Insel als Worst-Case-Szenario aus, da die wirtschaftliche Lage des Landes sich zunehmend verschlechtere.

Die deutsche Ampel blinkt schon wieder in allen Farben über den Bosporus hinweg und hat den Wahltag in Gestalt des SPD-Abgeordneten Michael Roth zum Schicksalstag erklärt. Es sei „vermutlich die letzte Chance“, Erdoğan demokratisch abzuwählen. Warum? Hat der Präsident angekündigt, ab diesem Mal keine Wahlen mehr durchzuführen? Nein, aber „Erdoğan wäre zuzutrauen, gegen ein missliebiges Ergebnis politisch und juristisch vorzugehen“.

Für den 69-jährigen Präsidenten gehe es „um alles“. Das ist kurz vor Putin, von dem angenommen wird, dass er sich bei einem Sturz aus dem Kreml vor dem Haager Gerichtshof verantworten wird müssen – und deshalb nicht fallen kann. Und natürlich hat Russland laut dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, der Roth ist, auch seine Finger im türkischen Wahlkampf – mit einer Desinformationskampagne. Die Wahlen seien „vermutlich frei, aber keineswegs fair“, so Roth, auch weil Erdoğan Medien, Wahlkommission und Justiz längst unter seine Kontrolle gebracht habe. Doch Erdoğan hat schon am Freitag angekündigt, das Ergebnis in jedem Fall anerkennen zu wollen. In einem Fernsehinterview vom Freitag sagte er: „Wir sind auf demokratischem Wege und mit der Unterstützung unseres Volkes an die Macht gekommen: Wenn unsere Nation eine andere Entscheidung trifft, werden wir tun, was die Demokratie verlangt.“

Klarer Sieg für Opposition erforderlich, sonst…

Abdullah Bozkurt, türkischer Journalist mit Sitz in Schweden, glaubt, dass die Opposition einen klaren Sieg braucht, um die „Fallen“ zu überwinden, die Erdoğan in der Wahlkommission bereithalte. Das Muster sei hier die Bürgermeisterwahl in Istanbul 2019, die ebenfalls von der AKP angefochten wurde. Tatsächlich gibt es einige ambivalente Äußerungen von Erdoğan, so die, nach der seine Anhänger sich bereithalten sollen, auf die Straße zu gehen wie im gescheiterten Putsch von 2016. Ein Putsch, den Bozkurt für eine False-flag-Operation zugunsten Erdoğans und seiner mehr und mehr diktatorischen Macht hält.

Seinen Wahlkampfabschluss feierte Erdoğan in der jüngst wieder zur Moschee entweihten Hagia Sophia bei Teilnahme hunderter Unterstützer. Die Umwidmung der alten Kirche setzt der Präsident als Wahlkampf-Trumpf ein, verweist auch auf die Augen der muslimischen Welt, die das Geschehen in der Türkei verfolge.

Erdoğan wollte die Ergebnisse der Wahlen zunächst aus Istanbul verfolgen, wo er auch seine Stimme im Stadtteil Üsküdar, dem früheren Scutari auf der asiatischen Seite des Bosporus, abgab. Dann machte er sich aber doch auf in die Hauptstadt Ankara. Mindestens seltsam war die Szene, als der Staatspräsident im Wahllokal Geldscheine an Kinder verteilte.

Kılıçdaroğlu sagte nach der Abgabe seiner Stimme: „Wir haben die Demokratie sehr vermisst.“ Der „Frühling“ werde hoffentlich nicht auf sich warten lassen. Im Südosten des Landes erschweren derweil noch immer die Folgen des starken Erdbebens die Teilnahme an den Wahlen. Auch sonst gleicht der Wahltag in der Türkei einer Reise nach Jerusalem, weil viele Wähler nicht dort eingeschrieben sind, wo sie leben.

Kılıçdaroğlu, der fünf Jahre älter ist als sein Mitbewerber, kann sich nicht nur die Wahlerfolge in Ankara und Istanbul zugutehalten. Er hat auch das denkbar breiteste Bündnis von Oppositionsparteien geschmiedet und insofern sich und die kemalistische CHP breiter aufgestellt denn je. In diesem Zuge machte Kılıçdaroğlu auch Zugeständnisse an den Islam: Frauen will er bei einem Wahlsieg auch weiterhin erlauben, das Kopftuch im Staatsdienst zu tragen. 2013 lockerte Erdoğan das kemalistische Kopftuchverbot in dieser Hinsicht.

Der einstige Finanz- und nationale Versicherungsbeamte Kılıçdaroğlu wurde erst im Ruhestand zum Politiker. Erst im April bestätigte Kılıçdaroğlu, der religiösen Minderheit der Aleviten anzugehören. Zugleich bekannte er, ein „aufrichtiger Muslim“ zu sein. Aleviten machen zehn bis 15 Prozent der türkischen Bevölkerung aus und gelten orthodoxen Sunniten als Häretiker, weil sie gewisse Riten nicht beachten. Kılıçdaroğlu wäre auch der erste Alevit an der Spitze des türkischen Staats. Insofern wäre eines mit ihm sicher: Die massive anti-laizistische Verquickung von Religion und Staat fände wohl ein Ende, auch wenn freilich die Hälfte des Landes noch immer genau das fordern wird.

Das Ergebnis der Wahl wird am späten Abend erwartet. Weiteres dann an dieser Stelle.

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