Bürgerdialoge. Also Dialoge zwischen Bürgern und dem Bundeskanzler. Das klingt so schön. So demokratisch. Ist das denn aber wirklich so? Nicht wirklich – wie TE bereits berichtete. Bei einem Bürgerdialog im rheinland-pfälzischen Bendorf am 1. Mai waren fünf von 30 Fragestellern Parteimitglieder der Grünen und der Sozialdemokraten. Insgesamt wurden also fünf von 30 Fragen – „lediglich“ 17 Prozent – von direkten oder erweiterten Parteifreunden des Kanzlers gestellt, wie es die Rhein-Zeitung vorrechnete.
Die Zeitung hat, wie eine Anfrage an das Kanzleramt ergab, „am 28. März dieses Jahres einen Aufruf veröffentlicht und in den folgenden Tagen auf ihren Kommunikationskanälen über den anstehenden Termin berichtet. Alle, die an der Teilnahme interessiert waren, konnten sich bis zum 4. April bei der Rhein-Zeitung per Mail bewerben.“ Insgesamt haben sich 500 Interessenten beworben, von denen 165 ausgewählt wurden. Die Moderatorin des Bürgerdialogs Patricia Küll suggerierte, dass auch die Auswahl der 30 Fragesteller unter den 165 Zuschauern zufällig gewesen sei. Bevor sie einen gewissen Klaus Dietrich drannahm, betonte sie: Man habe „keine Ahnung, welche Fragen jetzt gleich kommen“. Was nicht erwähnt wird: Genau dieser Klaus Dietrich ist örtlicher SPD-Ortsvorsitzender. TE-Autor David Boos rechnete aus, wie „zufällig“ der Bürgerdialog war: Von den über 500 Interessenten an der Teilnahme am Kanzlergespräch stellte ein Prozent – fünf Politiker – 17 Prozent der Fragen.
In Bendorf unterschied sich eine Sache stark von vorherigen Bürgerdialogen: Im März gab es einen Bürgerdialog in Cottbus, bei dem es noch üblich war, dass sich die Fragesteller mit Namen, Wohnort und Beruf vorstellten. Letzteres sparte man in Bendorf aus. Wäre auch unklug gewesen: Dann hätten sich ja auch fünf Fragesteller als SPD-Ortsvorsitzender, Juso-Beisitzer, Grünen-Kandidat, grüne Beisitzerin und grüne Kreissprecherin vorstellen müssen. Und dann hätte der Zuschauer sicherlich die Fragen, die Antworten und vor allem die „zufällige“ Auswahl der Fragesteller hinterfragt.
Ohne den Partei-Hintergrund zu erwähnen, fiel nicht direkt auf, dass sich die Fragen prima eigneten, damit Scholz seine rot-grüne Politik bewerben konnte: beispielsweise sein Programm zur veränderten Finanzierung von Krankenhäusern und natürlich seine Klimapolitik. Das klingt ja fast so, wie inszeniert. Aber nein. Wie der Pressesprecher der Bundesregierung meint: Nach seiner Kenntnis habe die Rhein-Zeitung die Teilnehmer „eigenständig und zufällig“ ausgewählt. Weiter schrieb der Pressesprecher: „Die Auswahl der Teilnehmenden, die eine Frage stellen konnten, erfolgte eigenständig durch die Moderatorin.“ Hier spart er das „zufällig“ aus. Und schiebt zugleich die Verantwortung einer vermeintlichen Inszenierung an die Moderation der Sendnung ab.
Dass solche Sendungen gern inszeniert werden, wenn nicht von der Regierung, dann von den öffentlich-rechtlichen Sendern, zeigte eine ähnliche Sendung zu Zeiten Angela Merkels (CDU) als Bundeskanzlerin: Damals hielt der Moderator Peter Frey während der ZDF-Sendung „Klartext Frau Merkel, Bürger fragen die Kanzlerin“ aus Versehen eine Liste in die Kamera, wie die M-Zeitung auf YouTube zeigt. Auf dieser Liste waren sechs Personen abgebildet und daneben waren handschriftliche Notizen zu sehen. Oh Wunder: Genau diese sechs Personen kamen in der Sendung auch zu Wort.
Apropos frei: Ebenfalls zu Merkel-Zeiten – im Juli 2015 – fühlte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk wohl so frei, Merkel und ihre Regierung mittels eines Bürgerdialogs unter Druck zu setzen: Damals erzählte das Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil von ihrem Schicksal und dem ihrer Familie. Sie sollten abgeschoben werden. Merkel antwortete ihr auf ihre bis dahin typisch kühle Art, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen könne. Dann fing Reem an zu weinen und Merkel versuchte, sie zu trösten. Nach diesem Bürgerdialog stürzten sich sämtliche Medien auf das kaltherzige Verhalten der Bundeskanzlerin, kurz darauf legte sie eine Wende in ihrer Flüchtlingspolitik hin: Am 31. August 2015 sagte sie die berühmten Worte ihrer Flüchtlingspolitik: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
Im September 2015 folgten dann ihre Worte: „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da.“ Für diese Wende erhielt sie, wie unter anderem die Welt berichtete, eine Menge Kritik – auch aus ihrer eigenen Fraktion. Übrigens: Später erhielt Reem laut Spiegel eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung.
Damals nahmen die Öffentlich-Rechtlichen die Ereignisse des Bürgerdialogs als Möglichkeit, Druck auf Politiker auszuüben. Und erkannten womöglich, wie ergiebig dies war. Immerhin folgte auf diesen Bürgerdialog und den Druck der Öffentlich-Rechtlichen die Wende Merkels. Nun inszeniert der Öffentlich-Rechtliche den Bürgerdialog so, dass sich die Politiker mehr oder weniger entspannt zurücklehnen können, weil viele Fragen sowieso von ihren Parteifreunden stammen. Wie wäre es mit der Idee, einen Bürgerdialog zu veranstalten, bei dem die Bürger ungefiltert zu Wort kommen? Ohne, dass Journalisten sie für eine eigene Agenda missbrauchen.