Wo es um Cybersecurity geht, wird es schwierig, die Guten von den Gaunern zu unterscheiden. Das ist eine der Botschaften, die der US-Journalist Michael Shellenberger mit seiner neuesten Recherche zu Spionage, Überwachung und Zensur in den sozialen Medien verbindet. Seine ziemlich kurze, aber mit weitreichenden Folgen und Implikationen versehene Reportage handelt ausnahmsweise nicht von Twitter selbst, auch wenn sie dort veröffentlicht wurde. Es geht, kurz gesagt, um die Kontrolle und staatlich-zivilgesellschaftliche Beeinflussung eines Kommunikationsmittels, das heute jeder mit sich herumträgt und das „bewusst auf Bequemlichkeit und Schnelligkeit ausgelegt“ ist.
Dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) entgehen WhatsApp-Nachrichten bisher. Allerdings versucht man seine Hände bereits auf Telegram zu legen, nur dessen Anbieter mag bisher noch nicht mit den deutschen Behörden spielen.
Im selben Moment, in dem die Maschinen durch ChatGTP das Sprechen und Kommunizieren lernen, sollen die Menschen also das wirkliche Gespräch verlernen, es zumindest online soweit aufgeben, dass es sich kaum noch von der mechanischen Wiederholung zugelassener ‚Wahrheiten‘ unterscheidet. Verlässt eine Aussage diesen Quadranten, setzt es Meldungen, Sperren, Blacklisting usw. Freie Aussagen, Meinungen und deren Weitergabe gelten als problematischer Teil der schönen, neuen App-Welt. Und das Merkwürdigste an der Sache ist: Den Möchtegern-Kontrolleuren und Wannabe-Zensoren scheint völlig zu entgehen, dass sie sich mit diesen ihren Bemühungen längst nicht mehr für Freiheit und Demokratie einsetzen, vielmehr an beiden sägen.
Omidyar-Netzwerk schlägt „Meldenummer“ auf WhatsApp vor
Dass Shellenberger keinem Phantom nachjagt, zeigt eine Diskussion aus einem Bericht des Omidyar Network, das 2004 vom Ebay-Gründer und heutigen Ebay- und Paypal-Großaktionär Pierre Omidyar gegründet wurde und laut Selbstaussage eine „philanthropische Investmentfirma“ ist, also irgendetwas zwischen Stiftung und Wirtschaftsunternehmen. Damit ist auch diese Organisation anderen „philanthropischen“ Stiftungen aus dem Bereich von Big-Tech und Finanzindustrie an die Seite zu stellen, bei denen die unterschwellige Interessenverfolgung keineswegs ausgeschlossen ist. Lupenreine Demokratie-Fonds sind sie nicht, eher Pressure-Groups für eine vermeintlich gute Sache.
Im Frühjahr 2022 beklagten die Autoren des Omidyar-Berichts ein verbliebenes Schlupfloch der Unbeobachtetheit für Smartphone-Besitzer und App-Nutzer. Es gebe, so hieß es da, „im Moment keinen einfachen Weg, um möglicherweise problematische Inhalte auf WhatsApp und anderen durchgehend verschlüsselten Plattformen zu entdecken“. Als Remedur schlug man „Hinweisnummern“ (tiplines) vor, also im Grunde Meldeportale für Falschinformationen. WhatsApp-Nutzer sollen potentielle Fake-News dann an diese Nummer weiterleiten, um sie auf ihren Faktengehalt zu überprüfen.
NetzDG setzt dank Privatisierung einen Meilenstein der Überwachung
Das erinnert an das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das laut Bundesjustizministerium „darauf zielt, Hasskriminalität, strafbare Falschnachrichten und andere strafbare Inhalte auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen“. Das NetzDG wird nun ausgerechnet von einem „liberalen“ Justizminister Marco Buschmann vollzogen, obwohl die FDP im Wahlkampf noch die Streichung des Gesetzes versprochen hatte. Und auch wenn das Stichwort „Hass“ an anderes denken lässt, geht es hier um echte Straftaten, etwa Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede – nicht „Hass und Hetze“ in ihrer allgemeinsten, über alle politischen Parteien und Radikalismen versprenkelten Form.
Mit dem Meldemechanismus hat Twitter in Deutschland dennoch Maßstäbe gesetzt. Das Problem mit dem NetzDG ist nicht die Löschung rechtswidriger Inhalte, wohl aber, dass ein international operierendes Privatunternehmen darüber entscheiden soll – und im Zweifelsfall einschneidender vorgehen dürfte als ein Gericht mit Anklage und Verteidigung. Einen ähnlichen Durchgriff stellen sich die Tech-Jünger offenbar auch für WhatsApp vor, das vom deutschen Gesetz derzeit noch ausgenommen bleibt.
Und warum eigentlich nicht eine solche „tipline“?, wirft auch der sonst allzeit kritische Shellenberger hier ein. Verschiedene Apps und Geräte bieten schon heute direkten Zugang zu Online-Lexika und Enzyklopädien an. Warum sollte man nicht eine Enzyklopädie der Online-Hassverbrechen als Work-in-progress begründen? Dieses Meldeforum für Falschnachrichten könnte nicht nur die „Re-Information“ der Nutzer sicherstellen, sondern würde zugleich den Kontrolleuren ein Meinungsbild verschaffen, eventuell sogar Erkenntnisse über die Ersteller und Verbreiter der fraglichen Informationen. Der Zugriff auf die Verbreiter, auf ihre Profile und Online-Konten wäre dann der logische nächste Schritt, auch er schon auf Facebook und Twitter vorexerziert. Shellenberger weist darauf hin, dass soziale Medien, die irgendwelche Meldemechanismen eingeführt haben, im Anschluss auf 75 Prozent der eingegangenen Meldungen reagiert hätten. Es gibt also kein digitales Meldewesen ohne die Funktion der Kontrolle und Sanktionierung.
Shellenberger weist zudem darauf hin, dass die genannte Idee nur die Spitze eines Eisbergs ist. Nach ihm sind die Instrumente für die Durchleuchtung verschlüsselter Chat-Nachrichten längst in Arbeit, etwa im Rahmen des Projektes CryptoChat, das der Thinktank Meedan – wiederum unterstützt vom Omidyar-Netzwerk – schon seit dem Jahr 2020 vorantreibt und mit dem das Aufspüren von „Falschsprech“ (Shellenberger) in WhatsApp-Nachrichten leichter werden soll. Wie weit das Projekt gediehen ist? Schwer zu sagen.
Die Neo-Oligarchie auf der Suche nach einer strukturellen Mehrheit
Ein von Shellenberger beigefügtes Video zeigt daneben, dass auch die Election Integrity Partnership (EIP) mit von der Partie wäre bei der Durchleuchtung verschlüsselter Messaging-Apps auf der Suche nach Fehlinformation (misinformation) oder Desinformation (desinformation). Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von Hochschullehrern aus Stanford und Washington, der Factchecking-Firma Graphika und dem auf Großspenden von Facebook, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Goldman Sachs angewiesenen Thinktank Atlantic Council.
Das Bild des dozierenden Mannes vom Atlantic Council mit fünf besorgt nickenden Frauen scheint typisch für die Neo-Oligarchie bestimmender Regelungskreise aus Washington D.C., Academia, „Zivilgesellschaft“ und Internet-Industrie. Der Mann fragt rhetorisch: „Was täten wir mit unbegrenzten Ressourcen?“ Seine Antwort an sich selbst: Endlich die verschlüsselten Nachrichten abschaffen, mit denen WhatsApp und andere Anwendungen einst so viel Werbung für sich gemacht haben.
Ursprünglich hatte sich die „zivilgesellschaftliche“ EIP-Gruppe zusammengefunden, um Falschnachrichten aus dem Wahlkampf 2020 aufzuklären, die dann unter anderem zum Vorwurf der „gestohlenen Wahl“ führen sollten. Die skandalbehafteten Mauscheleien der Biden-Kampagne rund um einen New-York-Post-Artikel über den Kandidatensohn Hunter Biden spielten dagegen keine Rolle. Kein Wunder: Nachrichten, die auf den Internetplattformen „viral“ werden, sind der Gegner schlechthin dieser Gruppen.
Aber mit dem 6. Januar 2021 (dem sogenannten „Sturm auf das Kapitol“) war die Tätigkeit des EIP dann auch nicht vorbei. Inzwischen geht es sozusagen darum, eine strukturelle Mehrheit gegen Trump zu errichten. Der kollektive Einsatz von Hochschulen, Online-Plattformen und allen Ebenen der Regierung für eine „freie und offene Gesellschaft“ und gegen „virale falsche und irreleitende Narrative“, so die EIP-Website, soll auch in Zukunft weitergehen. Die EIP-Aktivitäten sind nun auch Gegenstand einer Klage im Bundesstaat Louisiana. Auch das Heimatschutzministerium scheint an ihnen beteiligt gewesen zu sein.
Der manipulative Ansatz der Faktenchecker
Das Omidyar-Netzwerk weiß von „Gewalt, Desinformation und Manipulationskampagnen, die von privaten Messaging-Plattformen ausgehen“ – ein Phänomen, das angeblich (gefühlt) zunimmt. Niemand hat handfeste Belege oder empirische Daten für einen solchen Anstieg. Doch die Antwort auf das vermeintliche Problem ist klar: Auch die bisher als privat eingestuften Messagingdienste sind – wie andere soziale Medien schon heute – auf unerwünschte Inhalte zu filzen. Die aufgespürten ‚gewaltvollen‘, ‚hasserfüllten‘ oder sonstwie ‚falschen‘ Inhalte müssen dann logischerweise entfernt oder zumindest dem Auge der meisten Nutzer entzogen werden. Schwarze Listen und eine Existenz in Boxen, die das Tageslicht nicht sieht, können das Ergebnis sein.
Zum einen zeigt sich so: Es kommt immer der nächste Schritt. Als Twitter und Facebook „reguliert“ wurden, mochten sich viele Nutzer sagen: Na gut, das ist jetzt so eine wohltätige Moderation auf einem für mich nicht essentiellen Spielfeld. Aber damit waren schon zwei Kanäle der unabhängigen Bürger-Kommunikation eingehegt und bleiben es dauerhaft, angefangen von belehrenden Plaketten der Marke „Schauen Sie mal, wie die Temperaturen bei Ihnen ansteigen“ bis hin zu temporären und dauerhaften Sperren und Sichtbarkeits-Einschränkungen, die meist nur professionelle Nutzer direkt am eigenen Leib erfahren, die aber alle Nutzer betreffen und angehen. Dann sind plötzlich Beiträge nicht mehr teilbar und verschwinden auf mysteriöse Weise aus Timelines.
Darüber hinaus ist der gesamte Ansatz manipulativ. Zunächst einmal hat das Wort „Gewalt“ (violence), ähnlich die ebenfalls geläufige „Schädigung“ (harm), hier keinen körperlichen Sinn mehr. Beide Begriffe werden damit fast beliebig befüllbar mit metaphorischen Gewalt- und Schädigungsgefühlen und -phantasien. Und auch ‚Hass‘ ist nicht notwendig Hass, sondern kann in einem falschen Pronomen oder einem falschen Wort bestehen.
In typisch verquaster Form behaupten die Diskutanten dann, dass es auch um das „Leben und die Freiheiten“ von Einzelnen gehe. Beinahe ausgeschlossen scheint, dass es an dieser Stelle wirklich um „Menschenleben“ (also die Frage von Leben und Tod) gegangen sein könnte, auch wenn Trans- und andere Aktivisten im Online-Geschäft das immer wieder behaupten. Wie Shellenberger an anderem Ort schreibt, gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass tragische Todesfälle von Transpersonen durch Online-Hass zugenommen hätten. Im Gegenteil, die westlichen Gesellschaften würden insgesamt immer toleranter – in dieser und vielen anderen Fragen.
Die Werte Leben und Freiheit sind dabei durchaus von verschiedener Natur und nicht stets auf demselben Pfad unterzubringen. Man könnte auch sagen: Wer sein Leben kompromisslos optimieren und von metaphorischer Gewalt und Schädigung freihalten will, der gibt am Ende seine eigenen und die Freiheiten von anderen daran.
Diese Gedanken werden sogleich auch von den Mitgliedern des Omidyar-Netzwerks bestätigt. Denn die Freiheit des Einzelnen stand keineswegs im Zentrum ihrer Überlegungen. Stattdessen geht es ihnen um die (angeblich nachteiligen) Folgen des freien, unbeobachteten und unkontrollierten Online-Austauschs für die „demokratischen Institutionen“, für „die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Gesellschaften“ – also durch und durch kollektive, wo nicht kollektivistische Werte. Die Gesellschaft als Körper, der gesund und sozusagen hygienisch rein gehalten werden soll – das kann einen schon zum Nachdenken bringen.
Eindeutig scheint, dass die individuelle Freiheit, geht es nach diesen Leuten, den Kürzeren ziehen soll im Wettstreit mit „demokratischen Institutionen“, Gesundheit, Wohlergehen, Leben. Reden wir also von einer neueren Spielart des Totalitarismus? Shellenbergers Antwort ist eindeutig – das deutsche NetzDG bestärkt ihn darin, verfolgt es seine Ziele doch über deutsche Grenzen hinaus. Jede Anzeige auf Twitter muss untersucht werden. Und damit können am Ende auch Ziele jenseits einer rechtlichen Prüfung verfolgt werden.
Nur noch ein Schritt zum Online-Absolutismus
Wie äußern sich nun die Akteure selbst dazu? Die Autoren des Omidyar-Netzwerks bekennen ihre reformatorischen Gelüste offen: „Datenschutz ist für den Aufbau von Vertrauen unerlässlich, aber er ist nicht der allein entscheidende Standard für Sicherheit.“ Online-Sicherheit sei „das Ergebnis von vertrauenswürdiger Technologie und aufgeklärter Regulierung“. Wir sind anscheinend nur noch einen Schritt von einem wohltätigen, sozialistisch ausgerichteten „aufgeklärten Absolutismus“ der Online-Regulierer entfernt. Doch im Gegensatz zum 18. Jahrhundert, ist die heutige „Aufklärung“ etwas ziemlich Flaches.
Die smarten Omidyar-Investment-Netzwerker waren aber noch nicht fertig: „Während der Wechsel zur durchgehenden Verschlüsselung (von App-Nachrichten) das Vertrauen zwischen den Nutzern gestärkt hat, erleichtert eine technologische Architektur, die ‚Viralität‘ und Monetarisierung (von Inhalten) fördert, letztlich die schnelle und großflächige Verbreitung gefährlicher, verzerrter und betrügerischer Inhalte.“
So ist das eben mit der Freiheit, könnte man nun trocken entgegnen. Einmal vom Zaum gelassen, lässt sie sich nicht so leicht wieder einfangen. Zugrunde liegt den Bedenken der Omidyar-Leute ein fundamentales Misstrauen in das eigenständige Denken der Online- und App-Nutzer. Als ob die Bürger den auf sie einstürmenden Kaskaden (wir übertreiben) von „gefährlichen, verzerrten und betrügerischen Inhalten“ vollkommen schutzlos ausgeliefert wären. Für Michael Shellenberger sind das jedenfalls „schockierende Aussagen“, zumal wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch der Network-Gründer Pierre Omidyar, mit einem aktuellen Vermögen von neun Milliarden Dollar, sich lange als Anwalt von Redefreiheit und Privatsphäre präsentierte.
Blind für die Fake-News im eigenen Auge
Die Sorge um das „Leben“ einzelner Online-Nutzer spielt dann aber doch eine größere Rolle in der breiteren Diskussion als zunächst gedacht. Wie Shellenberger berichtet, beklagte das einst libertär-liberale Magazin Wired schon Ende 2021, dass „dutzende Todesfälle in Indien und Indonesien“ sowie „Wahlen in Nigeria und Brasilien“ durch persönliche und Gruppenunterhaltungen in Netzwerken wie WhatsApp beeinflusst worden waren. Die Beispiele scheinen in der Tat etwas abseitig. Jedenfalls trugen sie sich weitab von der Lebensrealität des Durchschnitts-Amerikaners zu, der die Geschehnisse deshalb kaum abschließend bewerten kann.
Fraglich bleibt aber vor allem, wie man derlei messen soll. Also: Was zählt als Falschinformation? Welche gefühlte Realität darf öffentlich angesprochen werden und welche verdient es, verworfen zu werden? Allein diese Fragen sind notorisch umstritten zwischen den verschiedenen Parteien in einem beliebigen Diskurs. Kann es also jemals ein allgemeingültiges, von allen akzeptiertes Lagebild zu Lügen und Wahrheiten im Internet geben? Kaum. Aber erst wenn das möglich wäre, könnte man definitiv von geschädigten Menschen oder ungebührlich beeinflussten Wahlen sprechen. Sonst bleibt es beim Cherrypicking: Man greift sich immer die Äußerungen der anderen Seite heraus, springt dabei angewidert über jedes Stöckchen, sieht aber nie den Balken im eigenen Auge.
So dürfte es heute bereits eine erhebliche Anzahl von Bürgern geben, die die alltäglichen Nachrichten vom Klimawandel und seinen so extrem polyphonen Folgen für eine Fake-News-Kampagne großer Massenmedien und arrivierter Kreise halten. Dagegen sieht die Gegenseite schon das Zweifeln allein am angeblich felsenfest erwiesenen „wissenschaftlichen Konsens“ als Fake-News an. Dass Fragen wie diese wahlentscheidend sein können, versteht sich dabei von selbst, seit Parteien sich in den Dienst der ökologistisch-klimatistischen Bewegung stellen (oder dieselbe anführen).