Ich sitze in einer Bar am Place du Luxembourg in Brüssel, in der Nähe des Europäischen Parlaments. Meine beiden Tischnachbarn sind politische Berater, die mit Vertretern der Mainstream-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) zusammenarbeiten. Was ich zu sagen habe, gefällt ihnen gar nicht.
Ich verweise auf den bemerkenswerten Erfolg der Bauern-Bürger-Bewegung (BoerBurgerBeweging, BBB) bei den niederländischen Provinzwahlen im vorletzten Monat. Diese agrarpolitische Bewegung kam aus dem Nichts und ist jetzt so populär, dass sie mehr als doppelt so viele Sitze in den Provinzen gewonnen hat wie die zweitstärkste Partei bei dieser Wahl. Mit einem Mal ist die BBB auf dem besten Weg, die größte Fraktion im niederländischen Senat zu werden, wenn dieser Ende des Monats von den Provinzparlamenten berufen wird.
Dann komme ich auf den Aufstieg der Finnenpartei in Finnland zu sprechen. Bei den Parlamentswahlen Anfang April belegte diese Partei (ehemals: Wahre Finnen) den zweiten Platz, und ihre Vorsitzende, Riikka Purra, erhielt mehr Stimmen in den Wahlkreisen als alle anderen Parteivorsitzenden. Der hohe Prozentsatz junger Menschen, die für die Finnenpartei gestimmt haben, deutet darauf hin, dass sich der Populismus entgegen der landläufigen Meinung nicht auf ältere Wähler beschränkt.
Ich merke, dass meine Trinkkumpanen die Nase voll haben, und widerstehe der Versuchung, sie daran zu erinnern, dass im nahe gelegenen Flandern – nur einen Steinwurf von uns entfernt – die separatistische Partei Vlaams Belang derzeit an der Spitze der Umfragen steht. Ich erwähne auch nicht die Tatsache, dass die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) in den Umfragen jetzt deutlich vorne liegt. Ich sage nichts über die Schwedendemokraten, die bei den Wahlen in Schweden im vergangenen September die zweitstärkste Partei wurden. Ich wage es auch nicht, sie daran zu erinnern, dass die populistische Partei Fratelli d’Italia bei den jüngsten Wahlen in Italien im selben Monat den höchsten Stimmenanteil aller Parteien erhalten hat. Es hat keinen Sinn, Salz in diese offene existenzielle Wunde zu streuen.
Was ich ihnen jedoch sagen möchte, ist, dass ihre Freunde von der EVP Gefahr laufen, den Bezug zur politischen Realität zu verlieren. Da sie sich die Vorurteile der Mainstream-Medien zu eigen gemacht haben, neigen sie dazu, den Populismus lediglich als Geißel der politischen zu betrachten. Oft hat es den Anschein, als wollten die etablierten Parteien diese aufstrebenden Parteien und ihre Wähler unter Quarantäne stellen und sie daran hindern, am politischen Leben teilzunehmen. Die EVP möchte, genau wie ihre Mitte-Rechts- und grünen Vettern in der EU, eine Welt ohne Populisten schaffen.
Dies war während und kurz nach der Corona-Pandemie deutlich zu sehen. Die etablierten politischen Parteien und ihre Freunde in den Medien hofften, dass die meisten Menschen so viel Angst vor der Pandemie haben würden, dass sie radikale Bewegungen ablehnen und stattdessen den ‚vernünftigen‘, technokratischen Einheitsbrei unterstützen würden.
„Der Populismus ist ein Opfer der Pandemie geworden“, erklärte die Times im Januar 2022. „The Great Reset: Die Unterstützung für populistische Politik ist während der Corona-Pandemie weltweit ‚zusammengebrochen´“, titelte SciTechDaily etwa zur gleichen Zeit. „Populistische Politik hat während der Pandemie weltweit an Unterstützung verloren“, behauptete CNBC im Januar letzten Jahres und atmete hörbar auf.
Die zahlreichen Berichte über den Niedergang des Populismus haben sich als reines Wunschdenken erwiesen. Bevor ich erklären kann, warum die Bewegungen, die das alte politische Establishment in ganz Europa in Frage stellen, nicht verschwinden werden, dreht sich eine meiner Tischnachbarn zu mir um, zeigt mir mit dem Finger ins Gesicht und ruft: „Sind Sie wirklich ein Populist, oder?“ Sie scheint zu erwarten, dass ich abwehrend reagiere und mich vom P-Wort distanziere. Als ich auf ihre Frage hin nicke, fragt sie, wie ein gebildeter Autor und ehemaliger Universitätsprofessor wie ich mich überhaupt als Populist bezeichnen könne.
Meine Antwort ist einfach: „Ich bin ein Populist, weil ich an die Demokratie und an die Fähigkeit der Menschen glaube, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Ich versuche darauf hinzuweisen, dass die Feindseligkeit meiner Gesprächspartner gegenüber dem, was sie als „Populismus“ bezeichnen, durch ihre psychologische Distanz zum Leben der arbeitenden Bevölkerung erklärt werden kann. Ich wende ein, dass der Antipopulismus in einigen Fällen ein Symptom der Demosphobie ist – der Angst vor dem Demos oder dem Volk. Sie schauen mich ungläubig an. Ich merke, dass ich nicht zu ihnen durchdringen kann.
Wir sind in eine Sackgasse geraten. Meiner Meinung nach liegt das an der Kluft, die zwischen der Weltsicht der globalistisch orientierten Eliten und dem Verständnis der großen Mehrheit der Menschen für ihre missliche Lage klafft. Meine Gesprächspartner glauben, dass ich „die Komplexität der Welt des 21. Jahrhunderts einfach nicht verstehe.“ Vermeintlich zeugt mein Engagement für die Volks- und nationale Souveränität von mangelnder Kultiviertheit und offenbart meine Unfähigkeit, mit der Zeit Schritt zu halten. Obwohl sie es nicht aussprechen, sehen sie in meiner Unterstützung für den Populismus wohl den Beweis dafür, dass ich ein Chauvinist, wenn nicht sogar ein Fremdenfeind bin. Zum Glück sind sie zu höflich, um mich als „rechtsextrem“ zu beschimpfen, zumindest in meiner Gegenwart.
Trotz derartiger Meinungsverschiedenheiten bin ich entschlossen, solche Gespräche fortzusetzen, um sicherzustellen, dass mehr Menschen aus der Brüsseler Echokammer ausbrechen können. Seit ich in Brüssel arbeite, werde ich immer wieder daran erinnert, dass die meisten Eurokraten ausschließlich in dieser Echokammer leben und alle außerhalb dieser Kammer als unaufgeklärt und rückständig betrachten. Diese souveränitätsfeindliche Technokratie, die nach außen hin arrogant, aber nach innen hin psychologisch unsicher ist, stellt selbst eine Bedrohung für die Demokratie und den Geist, der sie trägt, dar. Die globalistische Sichtweise der Eurokraten verhöhnt instinktiv die nationale Kultur und die traditionellen Werte. Sie betrachten Patriotismus und Loyalität gegenüber der Nation mit tiefer Verachtung. Wenn es nach ihnen ginge, wären die Werte, die das Fundament der europäischen Zivilisation bilden, in Gefahr. Gegenwärtig ist das einzige Hindernis, das diesem globalistischen Projekt im Wege steht, der Aufstieg des Populismus in verschiedenen Nationen.
Viele der mit dem Populismus verbundenen Haltungen spiegeln das wider, was die politische Philosophin Hannah Arendt als Suche nach vorpolitischer Autorität bezeichnet. Aus diesem Grund sind die Familie, das Zuhause, die Solidarität der Gemeinschaft und die Nation für die populistische Bewegung so wichtig. Dieses Streben nach Sinnstiftung durch vorpolitische Solidarität kommt häufig durch die Bejahung des traditionellen Familien- und Gemeinschaftslebens, der Religion und des Patriotismus zum Ausdruck. Dieser Versuch, die Grundlagen der politischen Moral neu auszurichten, steht im direkten Gegensatz zu den postmodernen kulturellen Normen, die in der Brüsseler Blase vorherrschen.
Sollte das populistische Projekt weiter an Boden gewinnen und es gelingen, die jüngeren Generationen zu beeinflussen, dann besteht das Potenzial für etwas Neues und Spannendes. Dies wird nicht spontan geschehen. Diese neuen Bewegungen sind noch in der Findungsphase. Sie müssen ihre Ideale erst noch in eine strategische Vision verwandeln. Sie müssen die Sehnsucht der Menschen nach Solidarität und Gemeinschaft noch mit einer zukunftsorientierten politischen Perspektive verbinden.
All dies steht, wie die populistische Bewegung selbst, erst am Anfang.
Dieser Artikel ist zuerst beim britischen Online-Magazin Spiked erschienen.
Frank Furedi ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den aktuellen Büchern „Die sortierte Gesellschaft- Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Sag was du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“.