Fünf Stunden debattierten die Mitglieder der grünen Ratsfraktion in Hamburg – um am Montagabend das Ergebnis zu verkünden: Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür, die Parteikollegin Miriam Block, 33, aus allen Fraktionsämtern zu werfen. Die Politikerin verlor ihr Amt als wissenschaftspolitische Sprecherin, auch aus den Ausschüssen für Wissenschaft und Inneres muss Block nach dem Willen ihrer Fraktion verschwinden.
Blocks Vergehen: Sie stimmte als einzige Grüne einem Antrag der Hamburger Linken-Fraktion zur Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu, der den der Terrorgruppe NSU zugerechneten Mord an dem Hamburger Gemüsehändler Süleyman Taşköprü aufarbeiten und damit auch die ungeklärten Fragen um den NSU-Komplex klären soll. Die Grünen hatten sich mit ihrem Koalitionspartner SPD vorher darauf verständigt, dazu keinen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Ursprünglich unterstützte die Grünen-Fraktion die Idee des Ausschusses. Dann sprach sich die SPD dagegen aus. Fast alle Grünen folgten dem Koalitionspartner – bis auf Block.
Bemerkenswert ist der Vorgang aus mehreren Gründen. Zum einen, weil es auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des NSU sehr viel mehr offene Fragen als Antworten gibt. Zum anderen, weil gerade grüne Politiker bei jeder Gelegenheit die Aufklärung des NSU-Komplexes fordern, und vor einem neuen NSU warnen – in diesem Fall auch gern in Verbindung mit der AfD.
Nur immer dann, wenn es tatsächlich um eine Untersuchung von dutzenden Widersprüchen und Rätseln des Falls gehen soll, votieren die Grünen merkwürdigerweise anders.
Schon 2021 lehnte die grüne Landtagsfraktion in Hessen Seite an Seite mit dem Koalitionspartner CDU eine Offenlegung der NSU-Verfassungsschutzakten zu der Mordserie ab. Gerade die hessischen Unterlagen – gesperrt für 120 Jahre, falls überhaupt noch vorhanden – wären hoch interessant. Denn sie würden vielleicht Aufschluss darüber geben, wie es passieren konnte, dass – so die offizielle Version – Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos einen Mann in einem Internetcafé in Kassel erschießen konnten – nur Meter entfernt von einem gleichzeitig anwesenden Beamten des hessischen Verfassungsschutzes, der davon angeblich nichts mitbekam. Die originelle Begründung der hessischen Grünen, warum die Akten unter Verschluss bleiben müssten: Bei einer Offenlegung gegenüber einer parlamentarischen Kommission würden auch AfD-Abgeordnete Einblick erhalten. Warum das in ihren Augen ein Problem darstellen würde, erklärten die Grünen nicht.
Der Internetcafé-Mord von Kassel gleich neben einem Verfassungsschützer, der nichts sah und hörte, zählt zweifellos zu den größten Merkwürdigkeiten des NSU-Komplexes, von denen es allerdings dutzende gibt.
Der ehemalige Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag Clemens Binninger (CDU), ein erfahrener Polizist, machte seinerzeit auf die größten Ungereimtheiten aufmerksam, die der Ausschuss nicht habe klären können. Er fragte öffentlich, wie es zwei Rechtsextremisten aus Jena gelungen sein sollte, bei den ihnen zugeordneten Morden – teils tagsüber ausgeführt – weder von Zeugen gesehen zu werden, noch eine DNA-Spur und eine Patronenhülse zu hinterlassen.
Außerdem: Bei auffällig vielen Opfern handelte es sich um Kurden. Aus welchem Grund suchten sich die beiden Uwes – getrieben von ganz allgemeinem Ausländerhass – ihre Zielpersonen gerade in dieser Gruppe? Auch die sogenannten Bekennervideos, die als Selbstbezichtigung ganz wesentlich die These von der Täterschaft des Duos stützen, geben bis heute Rätsel auf. Einen Teil davon fand die Polizei nach offizieller Version unversehrt in einem Rucksack, der in dem von Feuer und Löschwasser zerstörten Wohnmobil von Mundlos und Böhnhardt gelegen haben soll. Die Videos entdeckten die Beamten laut Akten erst Tage nach dem Tod der beiden. In den Unterlagen des Bundestags-Untersuchungsausschuss findet sich auch das Detail, dass der Rucksack erst zwei Tage vor dem Selbstmord-und-Feuer-Finale des NSU gekauft wurde – die Kaufquittung lag noch im Rucksack. Ein Bekennervideo, das einem Medium zugeschickt wurde, ging nachweislich erst in die Post, als Mundlos und Böhnhardt schon nicht mehr lebten, und Beate Zschäpe bereits festgenommen worden war. Wer es besaß und verschickte – bis heute ungeklärt.
Ohne Antwort blieb auch die Frage, warum die sogenannte Ceska-Serie – die praktisch spurenlosen Morde mit der schallgedämpften 7,65-Millimeter-Pistole überwiegend an Geschäftsleuten mit kurdischem Hintergrund – schon 2006 abbrach, obwohl Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe noch bis 2011 aktiv waren. Bei den späteren Taten, also dem Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter, den Banküberfällen, die dem Uwe-Duo tatsächlich durch Videoaufnahmen zugeordnet werden konnten, tauchte die Ceska nicht wieder auf. Sondern laut Polizeiprotokoll erst 2011 in der ausgebrannten Wohnung der drei NSU-Mitglieder in der Zwickauer Frühlingsstraße.
Ein Gebiet wurde bisher in Deutschland überhaupt noch nicht ausgeleuchtet: der Fall Ömer Güney. Selbst Ermittler, Journalisten und Politiker, die sich über Jahre mit vielen Details des NSU-Komplexes befassten, können mit dem Namen in der Regel nichts anfangen. Güney gehört nicht zu den neun Toten der sogenannten Ceska-Serie. Er war ein Täter – und mutmaßlicher Agent des türkischen Geheimdienstes MIT. Am 19. Januar 2013 erschoss er im Kurdistan Informations-Center in Paris die drei kurdischen PKK-Aktivistinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Söylmez. Als Waffe benutzte er eine schallgedämpfte Browning des Kalibers 7,65 Millimeter.
Nicht nur in Kaliber und Ausstattung der Tatwaffe glich der Dreifachmord den Morden der Ceska-Serie, sondern auch in den anderen Umständen: Es waren professionelle Hinrichtungsmorde am Arbeitsort der Opfer. Die französische Polizei überführte Güney; die Tat führte zu erheblichen diplomatischen Verwerfungen zwischen Paris und Ankara. Die türkische Regierung bestritt nicht, dass es sich bei Güney um einen Geheimdienst-Mann handelte. Er sei aber aus dem Ruder gelaufen und habe auf eigene Rechnung gehandelt. Die Regierung in Ankara wies jede Verantwortung für die Exekutionen zurück. Für Januar 2017 war der Mordprozess angesetzt. Kurz vorher klagte Güney über unklare Kopfbeschwerden; er wurde aus der U-Haft in ein Pariser Krankenhaus verlegt. Dort verstarb er am 17. Dezember 2016 unter ungeklärten Umständen.
Die französischen Ermittler fanden einiges über Güneys Lebensweg heraus. Unter anderem, dass er von 2003 bis 2011 in Deutschland gelebt hatte, genauer: in Bayern. Drei Opfer der Ceska-Serie starben bekanntlich in Nürnberg, zwei in München. In französischen und englischsprachigen Medien gab es eine Fülle von Berichten über Güney und die Morde, in Deutschland nur sehr wenige.
Was der Agent in Deutschland tat – auch hier gibt es ein riesiges Dunkelfeld, für das sich bisher weder Politiker noch die meisten Medien interessierten. Allerdings: Besonders laut beschwören Politiker der Grünen die Notwendigkeit der NSU-Aufarbeitung. Immer dann, wenn es konkret wird, gehören sie zu den Verhinderern einer nachträglichen Untersuchung.