Die EZB gab sich vom kürzlichen Bankenbeben, als mehrere mittlere US-Banken sowie die Credit Suisse kollabierten und anschließend die Kurse europäischer Bankaktien abstürzten, reichlich unbeeindruckt. Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde ging sogar in die Offensive. Den aufkommenden Zweifeln an der Inflationsbekämpfung in Anbetracht steigender Instabilität an den Finanzmärkten hielt sie entgegen, dass es „keinen Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und Finanzstabilität“ gebe. Eine „Separation“ dieser beiden divergierenden Ziele sei möglich, denn die EZB habe „genügend Instrumente, um das Finanzsystem bei Bedarf mit Liquidität zu versorgen“, und könne daher einen Crash verhindern. Unabhängig davon gelinge es, „die reibungslose Übertragung der Geldpolitik zu gewährleisten“, also preisstabilisierende Zinssteigerungen durchzusetzen.
Das offenbart, dass die Zentralbanken längst Opfer des Zielkonflikts sind, dessen Existenz Lagarde abstreitet. Die Probleme liegen sogar noch viel tiefer. Eine straffere Geldpolitik hätte, anders als von Lagarde behauptet, nicht nur Auswirkungen auf das Finanzsystem. Weit gravierender und für die Stabilität des gesamten wirtschaftlichen Gefüges letztlich entscheidend wären die Auswirkungen auf die Realwirtschaft.
Seit der Finanzkrise 2008 stecken die entwickelten Volkswirtschaften in einer wirtschaftlichen Depression. Trotz immer umfangreicherer geldpolitischer und fiskalischer Stimulierung gelingt nur noch ein minimales und zudem fragiles Wachstum. Die Wirtschaft droht dennoch immer wieder in Rezessionen abzugleiten und phasenweise stagniert die Wirtschaftsleistung. Arbeitsproduktivität und Reallöhne steigen seit Jahrzehnten kaum noch und im Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung sacken die Investitionen der Unternehmen immer weiter ab. Das Wirtschaftswachstum hängt fast komplett vom privaten Konsum ab.
Beatmung mit billigem Geld
Um die wirtschaftliche Depression im Griff zu behalten, ist immer billigeres Geld in allen entwickelten Volkswirtschaften zum bedeutendsten Schmiermittel des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden. Für die Realwirtschaft ist es existenziell.
Für die Unternehmen sind niedrige Realzinsen ein wichtiger Faktor. Kreditfinanzierte Investitionen können dadurch rentabler werden. Wegen ihrer rückläufigen Investitionstätigkeit verlieren diese, die Investitionskosten senkenden Effekte des billigen Geldes, jedoch immer weiter an wirtschaftlicher Bedeutung für die Unternehmen. Viel entscheidender sind niedrige Zinsen inzwischen bei der Beschaffung von Fremdkapital und für die Schuldentragfähigkeit der Unternehmen. Denn die Unternehmen finanzieren sich zum überwiegenden Teil – in Deutschland sind es knapp 70 Prozent – über Fremdkapital.
Die Realwirtschaft hängt jedoch nicht nur am Tropf geldpolitischer Stimulierung. Sie ist in zunehmendem Maß auch von fiskalischer Stimulierung abhängig geworden. Obwohl der amerikanische Staat seit 2008 die Staatsschulden jedes Jahr um gewaltige 7,5 Prozent des BIP steigert und dieses Geld in die Wirtschaft pumpt, wächst die US-Wirtschaft dennoch nur um durchschnittlich etwa 1,5 Prozent des BIP pro Jahr. In der Eurozone erreichte das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum im gleichen Zeitraum sogar nur weniger als ein Prozent des BIP. Um dies zu erreichen, mussten sich die Euroländer um etwa 3,5 Prozent des BIP in jedem Jahr zusätzlich verschulden.
So sorgen die Staaten für gewaltige schuldenfinanzierte Transferleistungen in die Sozialsysteme und an die Bürger, so dass der private Konsum – trotz real stagnierender oder gar sinkender Erwerbseinkommen – auf einem hohen Niveau gehalten werden kann. Hohe Unternehmenssubventionen, die ebensowenig durch staatliche Einnahmen gedeckt sind, halten sonst unprofitable Unternehmen am Leben und ermöglichen den besser aufgestellten Unternehmen Preissenkungen, die wiederum die Nachfrage stärken.
Um die zombifizierte Realwirtschaft über Wasser zu halten, sind niedrige Realzinsen unabdingbar. Im Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und der Stabilität der Gesamtwirtschaft, können die Zentralbanken gar nicht anders, als sich für niedrige Zinsen entscheiden. Im Zweifel müssen sie die Inflation – wie bisher – tolerieren. Das gilt umso mehr in Anbetracht der in den USA und in Europa herannahenden Rezession.
Billiges Geld durch Siechtum
Für die Zentralbanken ist die Stabilisierung des gesamten wirtschaftlichen Gefüges mit Hilfe billigen Geldes nicht nur wegen des drohenden Absturzes der Realwirtschaft von zentraler Bedeutung. Noch entscheidender ist es, ein Abgleiten zu verhindern, weil – entgegen der weit verbreiteten Annahme – nicht die Geldpolitik, sondern das realwirtschaftliche Siechtum die Quelle des billigen Geldes ist.
Mit dem Ende der Nachkriegsexpansion ab Mitte der 1970er Jahre sind die, im historischen Vergleich außerordentlich hohen, Investitionen der Unternehmen in den entwickelten Volkswirtschaften zunächst abrupt und in den folgenden Jahrzehnten schleichend zurückgegangen. Dadurch ist der Kapitalbedarf der Unternehmen kontinuierlich gesunken. Ab Anfang der 2000er Jahre haben die im Verhältnis zur Wertschöpfung immer weiter sinkenden Investitionen sogar dazu geführt, dass die Unternehmen steigende Finanzierungsüberschüsse erzielen. Daher drücken alleine die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften in Deutschland seit der Finanzkrise 2008 durchschnittlich jedes Jahr überschüssiges Kapital im Volumen von 3 Prozent des BIP in die Finanzmärkte. 2021 waren es etwa 120 Milliarden Euro. Sie haben keine Verwendung dafür, da sie – trotz der niedrigen Realzinsen – keine profitable Investitionsmöglichkeit sehen.
Zentralbanken stabilisieren die Geldpumpe
Die Rolle der Zentralbanken besteht seit Jahrzehnten darin, diese realwirtschaftliche Geldpumpe auch in Krisenzeiten zu stabilisieren und den Fluss billigen Geldes möglichst noch zu steigern.
So haben sie ab den 1980er Jahren eine asymmetrische Geldpolitik betrieben, indem sie zur Verhinderung wirtschaftlicher Krisen die Leitzinsen abgesenkt haben, ohne sie in den anschließenden Erholungsphasen wieder auf das frühere Niveau anzuheben. Wirtschaftliche Krisen, die zum Kollaps weniger produktiver und wettbewerbsfähiger Unternehmen geführt und erhebliche Kapitalwerte vernichtet hätten, wurden verhindert. Realwirtschaftliche Restrukturierungen, die zu steigenden Investitionen und einem höheren Kapitalbedarf der Realwirtschaft geführt hätten, sind daher seit Jahrzehnten weitgehend ausgeblieben.
Da die Zinspolitik der Zentralbanken eine starke Wirkung auf die kurzfristigen Zinsen hat, nicht jedoch auf das langfristige Zinsniveau, dienten die Anleihekaufprogramme dazu, auch die langfristigen Zinsen zu drücken. So gelingt es, den wegen der Kapitalschwemme ohnehin niedrigen Langfristzins, vor allem zum Nutzen der Staaten noch weiter abzusenken und die schuldenfinanzierte Fiskalpolitik zu erleichtern.
Die Stabilisierung dieser zombifizierten Realwirtschaft ist so zur unverzichtbaren Voraussetzung für die Stabilität des gesamten wirtschaftlichen Gefüges geworden, denn ihr niedriger Kapitalbedarf ist der Ursprung des in die Finanzmärkte strömenden Kapitals und vor allem niedriger Langfristzinsen. Der Geldstrom speist die Vermögenspreisblase, limitiert die fiskalischen Probleme beim Aufpumpen der Wirtschaft und ist letztlich sogar für die Realwirtschaft selbst existenziell, weil er zu niedrigen Schuldzinsen führt und vor allem schwachen Unternehmen das Überleben langfristig sichert.
Solange keine generelle politische und wirtschaftliche Kursänderung eingeleitet wird, besteht die Rolle der Zentralbanken darin, die in der Realwirtschaft liegende Quelle des billigen Geldes ergiebiger zu machen, auf jeden Fall aber zu verhindern, dass sie versiegt.
Staaten und Zentralbanken bewegen sich daher in einer Einbahnstraße. Sie können ihren jahrzehntelangen wirtschaftspolitischen Kurs, mit dem sie wirtschaftliche Krisen und notwendige Restrukturierungen ausgebremst haben und eine Zombiewirtschaft erschaffen haben, nicht leichtfertig ändern. Die Folge wäre ein Kollaps der Realwirtschaft mit gravierenden Folgen auch für die Staaten und das Finanzsystem. Die Inflation können die Zentralbanken auf lange Sicht daher nur in dem Maße bekämpfen, wie es die Abhängigkeit von billigem Geld und niedrigen Realzinsen zulässt.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.