Wissenschaft passt ihre Theorie der Wirklichkeit an, Ideologie passt die Wirklichkeit der Theorie an. Das gilt auch für die mechanistische Ideologie: Sie wollte die Wirklichkeit ihrer theoretischen Fiktion anpassen. Sie wollte die Natur und die Welt optimieren. Das trifft z.B. auf genmanipulierte Pflanzen und Tiere, Fleisch aus dem 3-D-Drucker und noch eine Reihe anderer künstlicher Produkte zu, aber es geht noch (viel) weiter. Manche sind der Meinung, dass die Menstruation nur eine überflüssige Unannehmlichkeit sei; sie plädieren dafür, sie mit künstlichen Hormonen auszuschalten und den weiblichen Zyklus in eine gleichförmige, flache Linie zu verwandeln. Und nach jahrelangem Experimentieren mit dem »Züchten« von Rinder- und Hundeföten in einer künstlichen Gebärmutter – einer Art Plastiktüte – finden manche, es sei nun an der Zeit, auch für menschliche Föten den Mutterleib durch eine Kunststoffkugel zu ersetzen.
Das Einzige, was noch fehlt, um solche Praktiken ganz den Zuchtprogrammen in Aldous Huxleys Brave New World anzugleichen, ist, dass die Mutterstimme durch die monotone Wiederholung konditionierender Botschaften ersetzt wird. Die melodiösen Echos der Mutterstimme wären dann nicht mehr im kindlichen Weinen wiederzufinden, aber das Baby käme »sozial angepasst« zur Welt. Und auch die anderen Vorteile dieses Zuchtprogramms sind nicht zu unterschätzen. Die zukünftigen Eltern können während der neun Monate der »Schwangerschaft« ihr Leben normal weiterführen. Ob das Kind mit seiner Anwesenheit doch noch eine Rolle in ihrem Leben spielen darf, nachdem die Kunststoff-Gebärmutter sich geöffnet hat und das Kind »geboren« wurde, ist noch nicht ganz klar.
Die besprochenen Tendenzen passen in eine breitere Sicht auf die ideale Gesellschaft. Institutionen, die sich gern mit der Gesellschaft der Zukunft beschäftigen, wie das Weltwirtschaftsforum (WEF), gehen unbesehen davon aus, dass wir uns hin zu einem Digikosmos entwickeln werden – einer »Gesellschaft«, in der sich das menschliche Leben größtenteils online abspielt.
Die Umweltbewegung des 21. Jahrhunderts folgt erstaunlicherweise weitgehend diesem Trend. Sofern sie den »ökomodernistischen« Weg einschlägt, will sie die Natur retten, indem sie den Menschen von ihr isoliert. Innerhalb dieser Ideologie ist es ein Verbrechen, auf dem Land zu wohnen, genau wie einen Holzofen zu heizen und ein Stück echtes – das heißt nicht im Labor erzeugtes – Fleisch zu essen. Das ideale Leben wird in einer solchen Logik womöglich größtenteils im Haus und an einer Infusion verbracht. Dass Mensch und Natur eine mystische Einheit bilden und in Harmonie existieren können, wird als eine romantische und unrealistische Vorstellung betrachtet, die angesichts der Dringlichkeit der Klimalage sogar geradezu gefährlich ist.
Diese Sicht auf die Gesellschaft vermischt sich gern mit dem sogenannten Transhumanismus. Das ist eine zeitgenössische Version der mechanistischen Ideologie, die es für wünschenswert und sogar notwendig erachtet, dass der Mensch in der Zukunft körperlich und geistig mit technologischer Apparatur verschmilzt. Sie möchte die Gesellschaft, dieses Chaos wimmelnder Leiber, durch ein streng technologisch kontrolliertes Internet of Bodies ersetzen. Dafür sollen die Körper mit Mikrochips versehen und über ein leistungsstarkes Internet überwacht werden.
Und es mag nicht verwundern: In dieser Utopie will man auch die ewig unbeherrschbaren Wetterverhältnisse – seit Menschengedenken Gegenstand des Klagens und Jammerns von Bauern – radikal mechanisch-technologisch unter Kontrolle bringen. Die Klimaerwärmung nötigt dazu. Und man glaubt, über probate Mittel zu verfügen. Man kann beispielsweise die Sonne verdunkeln, indem man technologisch manipulierbare Spiegel zwischen Erde und Sonne platziert, mit Raketen Sulfatwolken erzeugen oder Kreidebomben in der Stratosphäre explodieren lassen. Die mechanistische Ideologie lebt immer auf Kredit. In der Zukunft, wenn das Wissen komplett und die Technologie perfekt sein werden, wird sie die Mensch-Maschine ins Paradies bringen. Aber vorläufig wird man vor allem krank und depressiv davon.
Es klingt immer ein Misston in der triumphalen Musik der mechanistischen Ideologie. Die erlangte »Bequemlichkeit« hat ihren Preis. Und das zeigt sich in der Regel erst, wenn es zu spät ist. Die Fluorverbindungen in Antihaftbeschichtungen von Pfannen und die PFAS-Verbindungen in wasserabweisenden Regenjacken stellten sich als krebserregend heraus, genau wie das Ethylenoxid, das in Hunderten Alltagsgegenständen verarbeitet ist. Der Zusammenhang zwischen Chemikalien und Zivilisationskrankheiten ist im Prinzip allgemein bekannt, aber das scheint kein Hindernis zu sein, immer wieder auf dieselbe Weise weiter zu »zivilisieren«. (…)
Warum lässt sich der Mensch so massenhaft von der mechanistischen Ideologie verführen? Das liegt unter anderem an der Illusion, man könne die Beschwerlichkeiten des Lebens beseitigen, ohne sich selbst als Mensch infrage stellen zu müssen. Die klassische mechanistische Medizin ist das beste Beispiel dafür.
Darum geht es: Während die praktischen Anwendungen der mechanistischen Wissenschaft das Leben leichter machen, entgleitet uns die Essenz des Lebens immer mehr. Dieser Prozess spielt sich größtenteils unter der Oberfläche des Bewusstseins ab, aber die deutliche Zunahme psychischer Erkrankungen ist ein unmissverständliches Zeichen über der Oberfläche.
In gewisser Weise konnte der Aufklärungsmensch auch kaum anders, als sich an einen utopischen Fortschrittsoptimismus zu klammern. Im 19. Jahrhundert läutete die Industrialisierung der Welt das Verschwinden der Stände- und Klassengesellschaft und der lokalen sozialen Strukturen ein. Der Mensch fiel aus seinem sozialen und natürlichen Kontext heraus, und die mit diesem Kontext verbundene Sinngebung verschwand. In dieser »entzauberten«, mechanistischen Welt (Max Weber), in der das Leben per definitionem sinnlos und ateleologisch ist (die Maschine des Universums läuft ohne Sinn und Ziel), ging zudem auch das religiöse Bezugssystem verloren. Die Aussicht auf das Jenseits schwand dahin, und ein Ersatz dafür konnte kaum anderswo gesucht werden als im Glauben an ein künstlich geschaffenes, mechanistisch-wissenschaftliches Paradies.
Wenn wir von solchen Ideologien hören, glauben wir gern, dass sie das Produkt gestörter Geister seien. Das ist jedoch ein Irrtum. Platon, zum Beispiel, hielt Eugenik für eine lobenswerte Praxis, die in seinem idealen Staat ihren Platz hatte. Und das 20. Jahrhundert lehrte uns, dass diese Praxis durchaus gewisse »Erfolge« erzielen kann. Die systematische Abtreibung von Föten mit genetischen Anzeichen für Thalassämie führte in Zypern dazu, dass diese erbliche Blutkrankheit so gut wie vollständig von der Insel verschwand.
Wir müssen uns diese Frage ernsthaft stellen: Warum sollten wir den Prinzipien der Eugenik nicht folgen? Eugenik als gesellschaftliche Strategie kann man aus rein menschlich-ethischen Gründen verwerfen, aber es ist entscheidend, dass wir dies auch auf rationaler Basis tun können. Rational betrachtet, liegt der Kern der Sache vielleicht hier: Eugenik führt »lokal«, auf dem Gebiet der »Bekämpfung unerwünschter Merkmale«, manchmal zu erwünschten Ergebnissen, aber global bringt sie mehr Nachteile als Vorteile. Die staatliche Regulierung der Intimsphäre führt zu psychischer Zerrüttung und letztlich auch zu einem Verfall der physischen Gesundheit.
Selbst innerhalb einer Ideologie, die die physische Gesundheit zu ihrem obersten Ziel machen würde, wäre Eugenik eine zweifelhafte Strategie, die die Komplexität und Subtilität des menschlichen Wesens ignoriert. Totalitarismus, sagt Hannah Arendt, ist letztlich die logische Verlängerung der allgemeinen Wissenschaftsbesessenheit, des Glaubens an ein künstlich geschaffenes Paradies: »Wissenschaft [ist] zum Götzen geworden […], der magisch alle Übel des Lebens beseitigen und die Natur des Menschen selbst verändern wird.«
Leicht gekürzter und um die im Buch vorhandenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Mattias Desmet, Die Psychologie des Totalitarismus. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 272 Seiten, 24,00 €.