Es ist der erste Geburtstag ohne Benedikt. Am heutigen Tag hätte Joseph Ratzinger seinen 96. Geburtstag gefeiert. Erbarmungslos hat das Jahr 2022 mit Königin Elisabeth zuerst die Großmutter, mit Benedikt dann den Großvater Europas geraubt. 100 Jahre nach dem Schicksalsjahr 1922, das Ezra Pound als „erstes Jahr der Moderne“ bezeichnet hatte; das Jahr, in dem die Sowjetunion gegründet wurde, die Faschisten auf Rom marschierten und mit Karl I. der letzte habsburgische Kaiser starb. Die Welt, in die beide hineingeboren worden waren, existierte 2022 nicht mehr. Was danach kommt, bleibt nur zu erahnen; derzeit erleben wir nur, was vergeht. Wichtiger denn je die Frage: was ewig steht.
Benedikt hatte bereits zu Lebzeiten den Ruf eines Marc Aurel auf seinem Thron. Damit ging die Deutung einher, dass ein Philosoph auf der römischen Kathedra saß. Die Parallele besitzt eine weitere Dimension: denn von Marc Aurel bleiben nicht die Abwehrkämpfe gegen die Markomannen im Gedächtnis, sondern die Selbstbetrachtungen. Das ist vielsagend. Denn Marc Aurels Leistungen auf dem Schlachtfeld sind zu Unrecht vergessen.
Diese mediale Präsenz ist heute alles andere als selbstverständlich, was man an einem deutlich abgenommenen Interesse der Presse am aktuellen Papst sieht, nachdem die Phase der Verliebtheit verflogen ist; der Hass, der nicht nur Benedikt als Persönlichkeit, sondern auch der Institution des Papsttums als solcher galt, war dagegen selbst nach seinem Rücktritt spürbar. Traditionellen Katholiken hat in der Vergangenheit der Ruf ereilt, Franziskus nicht als Heiligen Vater anzuerkennen und einzig Benedikt anzuhängen; in Wirklichkeit haben Ratzingers ewige Gegner nicht anders gehandelt, wenn sie die kargen Äußerungen des Papa emeritus mit einem Eifer bekämpften, der nur dem echten Stellvertreter Petri zugestanden hätte.
Dass Marc Aurel als letzter guter Kaiser gilt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Krise Roms nicht nach seinem Tod begann, sondern sich in seinen Regierungsjahren abzeichnete. Dazu gehören äußere Bedrohungen wie die Markomannen und andere Barbaren an den Grenzen, die Vorboten der Völkerwanderung sind; allerdings auch eine verheerende Seuche wie die Antoninische Pest, die mit ihren hunderttausenden, wenn nicht Millionen Toten das Römische Reich mehr schwächte als der Angreifer von außen. Der Kaiser bekämpft diese Probleme, kann während seiner Amtszeit das Reich geeint und stabil halten; aber es ist unzweifelhaft, dass Rom einer Krise entgegenschreitet, die es seit Jahrzehnten, wenn seit Jahrhunderten in dieser Weise nicht mehr gekannt hat.
Benedikt ist wie Marc Aurel nicht der Welt entrückt. Beide suchen sie den Trost in der Schrift, im Rückzug, in der Reflexion über das Gute. Die Markomannen Benedikts sind der Missbrauchsskandal, den er – anders als häufig behauptet – in seiner Zeit als Papst durchaus bekämpft hat; die Antoninische Pest dagegen ist der eklatante Glaubensverlust in Europa, damit keine physische, dafür umso gefährlichere spirituelle Vernichtung, mit der auch die Wurzellosigkeit des Abendlandes einhergeht. Der Widerstand gegen den Relativismus kennzeichnet Benedikts ganzes Leben; sein geistiges Erbe liegt darin, dass er immer wieder das Wahre, Gute und Schöne in den Mittelpunkt stellte:
„Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt. Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus.“
Und doch ist da letztlich der große Moment, der Marc Aurel und Benedikt voneinander scheidet. Bis heute besteht die These, dass die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel im Bewusstsein der eigenen Todesnähe entstanden; dass der Kaiser reflektierte, weil er in einer kommenden Schlacht sterben konnte, deshalb über den Kosmos und Ethik philosophierte. Für den Römer war klar, dass ihn das Schicksal an seinen Platz gestellt hatte. Dass er dort, wo er stand, stehen musste. Dass er nicht darüber zu verzweifeln hätte, selbst wenn er den Tod in der Schlacht fand; denn all das hatte seine Ordnung, seine Fügung in der stoischen Weltanschauung.
Benedikt dagegen brach aus. Vermutlich aus der Gewissheit, dass er als schwacher Papst eine Phase der Verwirrung herbeiführen konnte, wie sie die Endphase des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. bedeutete. Womöglich kam er mit derselben Vernunft, die Marc Aurel leitete, zu einer gegenläufigen Schlussfolgerung. Auf den ersten Blick flieht der Bayer dort, wo der Römer steht. Doch selbst in diesem widersprüchlichen Schlusskapitel der eigenen Biografie findet sich eine frappierende Übereinstimmung.
Denn so, wie die Nachwelt Benedikt seine letzte Handlung als Amtsträger verübelt, so schüttelten auch die römischen Geschichtsschreiber den Kopf über den Imperator, der sein Leben lang gemäßigt, nachdenklich und von der Vernunft geleitet sein Reich verwaltet hatte – und zuletzt keinen geeigneten, adoptierten Thronfolger auswählte, sondern den mit zahlreichen Charakterschwächen geschlagenen Commodus, seinen leiblichen Sohn. Die Geschichtswissenschaft hat vermutet, dass Marc Aurel womöglich einen Bürgerkrieg fürchtete, hätte es Anhänger für einen geprellten Commodus gegeben; theoretische Bedenken, die Roms Stabilität bedroht sahen, so wie Benedikt die Kurie theoretisch in Gefahr sah, sollten seine Gebrechen ihn lähmen wie seinen polnischen Amtsvorgänger.
Über Benedikt wie Marc Aurel liegt daher ein Schatten. Ihr Charakter und Intellekt bestimmen das Bild der Nachgeborenen. Zugleich steht bei beiden fest: es handelt sich um Gestalten, die auch deswegen strahlen, weil sie heranziehendes Chaos umgibt. Bei Marc Aurel besteht bis heute der Zweifel, ob der Niedergang Roms einzig auf den Nachfolger zurückzuführen ist, und die Regierungszeit des Philosophenkaisers das Übel wirklich an der Wurzel gepackt hat; oder ob er vielmehr die Probleme mühselig unter dem Deckel halten konnte, die unter seinem Nachfolger zwangsläufig an die Oberfläche traten. Ob Benedikt als Antipode oder Mitbereiter der Krise der römisch-katholischen Kirche in die Geschichte eingehen wird – auch daran scheiden sich bis heute die Geister.