Und sie wirkt doch. Ganz unbemerkt ist die grün dominierte Ampelpolitik bei den Wählern wohl doch nicht geblieben. Laut aktueller Sonntagsfrage von INSA würden die Grünen nur noch 15,5 Prozent der Stimmen erreichen. Demnach schmilzt nach den Klima-Beschlüssen vergangener Woche sogar die Kernwählerschaft der Grünen (die sogenannten „sicheren Stimmen“) auf jetzt 10 Prozent, während ein wachsender Anteil von 40 Prozent die Grünen auf keinen Fall wählen würde. Die AfD dagegen steigt auf 16 Prozent, ihr höchster Wert seit Erhebung des INSA-Meinungstrends. Der Anteil, der die AfD auf keinen Fall wählen würden sinkt um vier Prozentpunkte auf jetzt 54 Prozent. Nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen kann sich unter gar keinen Umständen ein Kreuz bei der AfD vorstellen. Und das, obwohl die meisten Leitmedien, die öffentlich-rechtlichen Sender vorneweg, unverdrossen das Hohelied der Grünen singen – und die AfD kaum noch in der Berichterstattung vorkommt, es sei denn als Objekt der Abscheu. An der öffentlichen Präsenz von AfD-Aussagen kann deren Höhenflug also kaum liegen.
„Rechts wird man nicht, wenn man Rechten, sondern wenn man Linken zuhört.“ In Abwandlung dieses Satzes des kolumbianischen Aphoristikers Nicolás Gómez Dávila (1913–1994) hat der österreichische Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier kürzlich einen treffenden Satz formuliert: „Die Linke produziert heute die rechte Wählerschaft, die sie hingebungsvoll bekämpft, überwiegend selbst.“
Natürlich steckt da auch die ganz normale Dialektik der Moderne dahinter: Jede Macht ruft den Widerstand der unter ihr Leidenden hervor. Das Verwirrende daran ist allerdings, dass auch die neue Linke, also nicht nur die früher – zumindest bis „68“ – in der gesellschaftlichen Opposition stehende, sondern auch die heute regierende und vor allem den Diskurs beherrschende grüne und woke Linke sich ihrem Selbstverständnis nach als „Widerstand“ und als Interessenvertretung der Benachteiligten und Unterdrückten versteht – gegen die vermeintlich „Privilegierten“.
Und doch ist es so. Deutlich wird das schon am Namen der „Alternative für Deutschland“, der eine Reaktion signalisiert, nämlich die Wahrnehmung einer von Angela Merkel personifizierten Linkswendung der CDU und damit behaupteten Alternativlosigkeit von letztlich neulinken und grünen Projekten.
Heinzlmaier bezieht sich in seinem lesenswerten Beitrag vor allem auf „wokes Palaver und identitätspolitisches Geschwurbel“, auf „den lebensfremden Wahnsinn, der uns täglich aus Progressiv-Absurdistan erreicht“. Die Gegner der Linken müssten diesen nur selbst zugänglich machen, das triebe ihnen „die Fische“ (also Wähler, Anhänger) zu.
Das stimmt. Aber es ist nicht nur der „lebensfremde Wahnsinn“. Auch die materiellen Auswirkungen heutiger linker Politik (die Verteuerung der Energie und nun vor allem des Herzens in den eigenen Wänden) sind eine dauernde Aufforderung von „rich kids“ (wie zum Beispiel Topmanager-Tochter Annalena Baerbock) an die abstiegsgefährdete Mittelschicht, sich von dieser abzuwenden. In den ersten Monaten des Jahres 2023 scheint sich die Parteien und EU-Mitgliedsländer übergreifende Linke dazu verabredet zu haben, den Kindern und Enkeln der zu Wohlstand gekommenen früher „kleine Leute“ genannten und häufig linke (sozialdemokratische) Parteien wählenden Mittelschichtsangehörigen klar zu machen, dass sie ihnen ans Geld wollen.
Vor allem auf die zwei wohl größten Brocken des Wohlstandszeitalters haben es die Meisterinnen und Meister der Klimagerechtigkeit abgesehen, die auch Sinnbilder dieses zu Ende gehenden Zeitalters sind: Auto und Eigenheim. Beides, das machen die Agenda-Setzer in Brüssel und Berlin immer weniger verschleiert deutlich, soll wieder zum Luxusgut werden. Dass dafür die Vokabel der (Klima-)Gerechtigkeit bemüht wird, zeigt nur, wie entfremdet von der Wirklichkeit herkömmliche politische Kampfbegriffe mittlerweile sind.
Ob das nun von jedem einzelnen Protagonisten der Klimagerechtigkeit und den Autoren entsprechender Maßnahmen vom Verbot der Verbrennungsmotoren und -heizungen bis zur Zwangssanierung wirklich absichtsvoll gewollt ist? Vielleicht nicht. Womöglich überdeckt für die Autoren solcher Verbote und diejenigen, die ihnen in Parlamenten zustimmen, der unbedingte Glaube an die Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß zu senken, jeden Gedanken an die fatalen sozialen Auswirkungen.
Und wenn man sich dann sogar noch dabei gut fühlen kann, weil man ja kein böser Kapitalist ist wie frühere Reiche, sondern sich zu Diversität und Klimagerechtigkeit bekennt – umso erhebender. Materiell besser leben als die anderen und dabei auch noch auf der moralisch sicheren Seite stehen – das ist für manch einen Angehörigen des gesellschaftlichen Establishments eine angenehme Aussicht. Dafür lohnt es sich sogar, grün zu wählen, auch wenn man selbst oder die eigenen Kinder künftig vielleicht keinen Porsche mit Boxer-Motor mehr fahren können. Das könnte einer der Gründe dafür sein, dass die Grünen ausgerechnet bei den Wohlsituierten und Vielverdienern überdurchschnittlich gelitten sind – in Frankreich und den USA nennt man sie „Bourgeois Bohemiens“ oder kurz Bobo.
Anders sieht es für jene aus, die sich ein Eigenheim schon jetzt nicht mehr und ein eigenes Auto und Flugreisen demnächst nicht mehr leisten können. Viele von diesen Menschen, denen in diesen Tagen vielleicht ihre ganz persönliche Betroffenheit durch die Nachrichten aus Brüssel und dem Wirtschaftsministerium in Berlin bewusst wird, könnten tatsächlich in Zweifel geraten, ob für sie die Dominanz der neuen, grünen, klimagerechten Linken so erstrebenswert ist.
Je klarer dies den noch Eigenheim besitzenden, hin und wieder flugreisenden Autofahrern wird, desto mehr könnte sich tatsächlich die Erkenntnis von Dávila und Heinzlmaier bestätigen. Die Helden der alten Linken des 19. und 20. Jahrhunderts, Männer wie Ferdinand Lassalle oder Kurt Schumacher, hätten es sich bestimmt nicht vorstellen können, dass man es sich dereinst im frühen 21. Jahrhundert leisten können muss, links zu sein. So wenig wie sich Herbert Gruhl und andere ökologisch bewegte Gründer der Grünen in den 1970ern wohl hätten vorstellen können, dass einmal eine grün dominierte Bundesregierung den Bau eines Flüssiggas-Hafens ohne Umweltverträglichkeitsprüfung forcieren würde.