Tichys Einblick
Denkfabrik Republik 21

Die Bürgerlichen auf der Suche nach der verlorenen Merkel-Zeit

Die Denkfabrik R21 organisierte einen Kongress, der sich mit der Hinterlassenschaft der früheren CDU-Chefin und Bundeskanzlerin befasst. Auf dem Podium in Berlin fanden erst einmal Aufräumarbeiten statt.

Angela Merkel macht die Raute als sie für ein Bild in Berlin am 16. Mai 2019 posiert.

IMAGO / Emmanuele Contini

Diejenige, um die es am Brandenburger Tor gut acht Stunden ging, blieb die ganze Zeit über stumm anwesend. Die Wand hinter den Diskutanten auf der Bühne zeigte überlebensgroß die Rautenhände der früheren CDU-Chefin und Kanzlerin. Unter dem Titel „Deutschland nach der Ära Merkel – Lehren für die Gegenwart, Perspektiven für die Zukunft“ lud die Denkfabrik R21 (Republik 21) nach Berlin, es stand also eine Bilanz der 16 Regierungsjahre auf dem Programm, in denen die Union zwar regierte, sich dabei aber auch Schritt für Schritt in eine weitgehend inhaltsleere Hülle verwandelte.

Bei der Republik 21 handelt es sich nicht um eine Organisation der Partei, sie erhält auch kein Geld von der Union oder überhaupt aus staatlichen Töpfen, sondern bisher nur von privaten Unterstützern. Allerdings amtiert der Mitgründer und führende Kopf der Denkfabrik, der Mainzer Historiker Andreas Rödder, auch als Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission. Es existiert also zumindest eine informelle Verbindung.

Als Rödder abends die Konferenzergebnisse zusammenfasste, erklärte er den Anspruch von R21: „Wir wollen bürgerliche Politikkonzepte entwickeln, Debatten prägen, Politik beraten und die führende Stimme des bürgerlichen Deutschland sein.“ Und dazu, das bildet gewissermaßen den Subtext, möchte seine Organisation die programmatisch immer noch etwas schlaffe Hülle der Partei und überhaupt des bürgerlichen Spektrums wieder mit Ideen füllen. Wozu es wiederum gehört, die Hinterlassenschaft Merkels erst einmal kritisch in den Blick zu nehmen. 

Die einzelnen Diskussionsrunden arbeiteten zu diesem Zweck systematisch die geerbten Problemfelder ab: von der Verteidigungs- über die Klima- und Wirtschafts- bis zur Einwanderungspolitik. Die Generalkritik an Merkels Sicherheitspolitik übernahm ein langjähriger SPD-Politiker, der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels, heute Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Unter der Kanzlerin habe es eine „Abrüstung im Blindflug“ geben, die die Verteidigungsfähigkeit praktisch beseitigt habe. „Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr“, so Bartels, „ist heute an einem Tiefpunkt. So überraschend schlecht die russischen Landstreitkräfte in der Ukraine auch performen, mit unseren eigenen Munitionsvorräten von Flugabwehrraketen bis zu Artilleriegranaten könnten wir kein Jahr, keinen Monat, keine Woche durchhalten.“

Hier zeigte sich ein Grundmuster der Konferenz: Keiner ihrer Befunde kommt überraschend. Die Teilnehmer referierten nichts wirklich Neues. Das Besondere lag eher darin, dass Wissenschaftler, Manager und Journalisten auf der Veranstaltung einer zumindest inhaltlich CDU-nahen Organisation 16 Jahre Regierungszeit durchmusterten, und dabei nichts entdecken konnten, was für die Gegenwart taugt, geschweige denn für die kommenden Jahre.

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In der Energie- und Klimapolitik, stellte der Volkswirtschaftler Joachim Weimann von der Universität Magdeburg fest, „könnte die Kluft zwischen Rationalität und Realität nicht größer sein“. Über die vergangenen Jahren, so Weimann, hätten sich eine ganze Reihe von Mythen etabliert, vor allem die Überzeugung, Deutschland müsste eine Schlüsselrolle bei der globalen CO2-Reduzierung spielen, und zweitens, es dürfe dabei nicht nach den Kosten gefragt werden, weil die Schäden des Klimawandels sie immer übersteigen würden, egal, wie hoch die Transformationskosten ausfielen. Aus seiner Sicht kann nur der Emissionshandel dafür sorgen, dass die Verringerung des Kohlendioxidausstoßes dort stattfindet, wo es mit dem geringsten finanziellen Aufwand möglich ist. 

Wolfgang Reitzle, ehemals Manager bei BMW, Vorstandsvorsitzender und bis vor kurzem Verwaltungsratsvorsitzender von Linde, hielt auf dem Podium die Abschaltung der Atomkraft in Deutschland für „fatal“, meinte aber, sie sei nicht wieder rückgängig zu machen. Aber das, was schon unter Merkel als Ziel ausgerufen und durch die Ampelkoalition noch einmal beschleunigt worden sei, nämlich die Versorgung des Industrielandes schon 2030 zu 80 Prozent und dann vollständig mit Strom aus Wind- , Solar- und Biogasanlagen, sei realitätsfern: „Theoretisch geht es nicht, und praktisch ist es nicht machbar.“

Nach seinem Gegenmodell würden die, wie er sie nennt, „volatilen Energien“ maximal 50 Prozent des Strombedarfs decken, und Gaskraftwerke die andere Hälfte, wobei das Kohlendioxid abgeschieden werden sollte. Deutschland, meinte Reitzle, betreibe eine energieverteuernde Klimapolitik, „die niemals Vorbild werden kann“. Er steuerte das Bonmot bei, die bundesrepublikanische Energie- und Klimastrategie gleiche dem Versuch, „eine Straßenbahn von innen anzuschieben“. 

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Die Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland plädierte erwartungsgemäß für Kernkraft. Und gab den Bürgerlich-Konservativen den Rat, gerade in der Energiedebatte von dem emotionalen Atomkraft-nein-danke-Stil der Grünen zu lernen. Deren Schlagworte von der unsicheren und zu teuren Kernkraft seien zwar faktisch falsch, aber außerordentlich wirksam.

Als es auf dem Podium um Bevölkerungsentwicklung und Migration ging, erklärte der Ökonom Axel Börsch-Supan von der Universität München, in Merkels Regierungszeit sei eine Sozial- und vor allem Rentenpolitik betrieben worden, „die der Demographie entgegenläuft“. Er meinte allerdings, durch die Migration könnte das Land seinen Arbeitskräftemangel mildern. Der Psychologe Ahmad Mansour hielt dagegen: „Die gut Qualifizierten gehen in die USA, nach Kanada und andere Länder, aber nicht nach Deutschland.“ Die Ethnologin Susanne Schröter, Professorin an der Universität Frankfurt, brachte den migrationspolitischen deutschen Sonderweg auf eine knappe Formel: „Alle Einwanderungsländer steuern ihre Migration.“ Nur die Bundesrepublik sende die Botschaft: „Wer einmal deutschen Boden erreicht, wird nicht wieder abgeschoben. Das ist ein Pull-Effekt ohnegleichen.“ 

In der Journalistenrunde, die Merkels Regierungsstil beleuchtete, erinnerte Welt-Redakteur Robin Alexander – auch Autor des Buchs „Die Getriebenen“ – an das vermutlich wichtigste Erbe der Politikerin: die Existenz der AfD. Ohne ihre Euro-Rettungspolitik und die Grenzöffnung von 2015 wäre keine Konkurrenz rechts von der Union entstanden. Das Diktum von Franz Josef Strauß lautete bekanntlich, dort dürfe es keine demokratisch legitimierte Kraft geben. Alexander ließ gewissermaßen im Gegenschnitt ein Merkel-Interviewzitat von 2016 folgen, indem sie deutlich machte, dass sie die AfD-Gründung ausdrücklich in Kauf nahm: 

„Wenn der Satz von Strauß aber andererseits auch so verstanden werden kann, dass im Ergebnis Prinzipien relativiert oder gar aufgegeben werden müssten, damit Menschen sich nicht von der Union abwenden, Prinzipien, die für unser Land wie auch die Union konstitutiv sind, die den Kern unserer Überzeugungen ausmachen, dann gilt dieser Satz für mich nicht.“ 

Diese Argumentation führt ganz nebenbei mustergültig die Raffinesse vor, mit der Merkel in der öffentlichen Debatte Sachverhalte umformte. Denn ihr Satz suggerierte, die Wähler, die von der Union flohen, hätten jähe Wendungen vollführt und entscheidende Prinzipien des bürgerlichen Milieus über Bord geworfen. In Wirklichkeit war sie es ja, die erst Multikulti für gescheitert erklärte und dann die unbegrenzte Armutseinwanderung zur Regierungspolitik machte. Und sie erklärte, es wäre eine heuchlerische Politik, wenn Deutschland seine Kernkraftwerke abschalten, dann aber Atomstrom aus Frankreich importieren würde. Um dann genau diese Politik zu betreiben. In ihrer Amtszeit  – das gehörte nicht zu den Punkten der Konferenz, die andererseits auch alles unmöglich an einem Tag abarbeiten konnte –  erhielten linke Vorfeldorganisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung und die „Neuen Deutschen Medienmacher“ Gelder aus dem Steuertopf mehr oder weniger nach Wunsch. 

In der Journalistenrunde fiel es dem FAZ-Redakteur Ralph Bollmann zu, Merkel in günstiges Licht zu setzen. Unter ihr sei die CDU „eine der erfolgreichsten Mitte-rechts-Parteien in Europa“ gewesen. Ihre Migrationsentscheidung von 2015 könne man „mit guten Gründen verteidigen“.  An dieser Stelle blitzte kurz die Antwort auf die Frage auf, warum ganze Journalistenkohorten ihrer Politik folgten und sie lobten: Die einen bewunderten offensichtlich wie Bollmann die Technik, mit der sie sich an der Macht hielt und Gegner ausschaltete. Und andere fanden es ausgezeichnet, wie sie einer Migrations- und Energiepolitik Breschen schlug, wie es selbst eine rot-grüne Koalition vermutlich nicht so alternativlos getan hätte. 

Keiner rechnete so zugespitzt mit der frühen CDU-Leitfigur ab wie der Beobachter von außen, der Schweizer Journalist und Verleger Frank A. Meyer. Vor allem in der Migrationspolitik seien ihre Maßgaben „unglaublich von oben gekommen“, ihr Herrschaftsstil durch und durch paternalistisch, aber eben bei einem Teil der Deutschen auch erfolgreich gewesen: „Wir machen das für euch. Habt Vertrauen. Ihr kennt mich.“

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Ganz am Anfang von Merkels Aufstieg stand bekanntlich ihr Text in der FAZ, in dem sie 1999 als Generalsekretärin den bis dahin übermächtigen, aber durch Machtverlust und Spendenaffäre geschwächten Helmut Kohl mit dem Satz beiseiteschob: „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“ Die historische Pointe liegt darin, dass Merkel am Ende ihrer Zeit inhaltlich überhaupt keinen Gegnern mehr gegenüberstand – von der AfD einmal abgesehen. Mit politischen Widersachern zu kämpfen, das muss die CDU 2023 anders als 1999 überhaupt wieder lernen. 

In seinem Fazit meinte Andreas Rödder zu der inhaltlichen Wiederaufrüstung: „Es ist alles da, es muss nur gemacht werden.“ Was unausgesprochen bedeutet, die Partei müsste sich in so gut wie allem –  von der Migrations- und der Energie- bis zur Wirtschaftspolitik – nicht nur von Merkel lösen, sondern sich auf direkten Gegenkurs zu ihr begeben, um wieder zu gewinnen. Wozu auch gehören würde, die dann fällige Kritik in den Medien auszuhalten. Auch das Thema steht auch schon auf der Agenda von R21, und zwar mit Blick auf die Medien selbst. Als nächsten großen Schwerpunkt, kündigte Rödder an, will sich die Denkfabrik die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vornehmen. 


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