Der „Synodale Weg“ der Katholischen Kirche in Deutschland irritiert mittlerweile nicht nur Gläubige. Kürzlich fragte TE den Theologen Bernhard Meuser, ob man nun aus der Kirche austreten solle. Kardinal Gerhard Ludwig Müller ordnet das Geschehen in den größeren Kontext ein und kommt zum Schluss: Die Kirche ist entweder christlich einig, heilig, katholisch und apostolisch oder politisch-weltlich ein Wurmfortsatz von Parteien, Gewerkschaften und NGOs.
Tichys Einblick: Am 13. März hat sich der Tag der Wahl von Papst Franziskus zum zehnten Mal gejährt. Am Silvestertag – Ihrem Geburtstag – ist Benedikt XVI. verstorben. Wo sehen Sie Benedikts Erbe in diesem Pontifikat noch lebendig, wo erkennen Sie die Diskontinuität?
Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Die Unterschiede zwischen diesen beiden Päpsten sind in ihrer unterschiedlichen geistigen Prägung begründet. Benedikt war der klassische deutsche Professor von höchster intellektueller Kapazität. Papst Franziskus ist mehr praktisch-politisch ausgerichtet und versucht mit schlichten Gesten und leicht eingänglichen Appellen die Botschaft Jesu für jedermann zugänglich zu machen.
Die Kontinuität in der zeitlichen Aufeinanderfolge der Pontifikate muss aber mehr als in vergleichbaren menschlichen Eigenschaften in ihrem Dienst an der Wahrheit des Glaubens und der Einheit der Kirche bestehen. Die Worte Jesu an den Ersten der zwölf Apostel, mit denen er den bleibenden Petrus-Dienst in der Kirche eingerichtet hat, müssen die Leitlinie sein für die konkrete Ausübung dieser besonderen Sendung. Wesentlich ist es, dass er wie ein guter Hirte die vielen Gläubigen im Glauben an Jesus den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, versammelt, damit die Kirche immer als das erscheint und wirkt, wozu sie Christus begründet hat: Sakrament zu sein für das Heil der Welt in Jesus Christus.
Der italienische Theologe Nicola Bux hat kürzlich beklagt, dass Papst Franziskus die Glaubenskrise Europas nicht genügend ansprechen würde. Stimmen Sie dem zu – und welche Zukunft der Katholischen Kirche in Deutschland und Europa folgert daraus?
Ich möchte das nicht als Kritik verstanden wissen, wenn ich sachlich darauf hinweise, dass nicht die Umorganisation der Kurie, oder die Kontrolle der Finanzen kirchlicher Einrichtungen die größte Herausforderung darstellt, sondern der globalistische Transhumanismus, dem die Kirche das göttliche Manifest von der Erschaffung jedes einzelnen Menschen nach dem Bild und Gleichnis Gottes entgegenhält.
Segnungen von Homo-Ehen, Frauenpriestertum, Interkommunion – der Synodale Weg versteht sich als eine Antwort auf diese Glaubenskrise. Was ist der Stand in der Katholischen Kirche in Deutschland – und wohin strebt sie derzeit?
Mit der Agenda der sogenannten „Woke-Kultur“ kommt die Menschheit nur weiter in Richtung ihrer Selbstzerstörung. Es geht hier nicht nur um die drei genannten Einzelpunkte, sondern die dahinterstehende falsche Anthropologie, die die Ehe von Mann und Frau zu einer beliebigen Variante selbstbezogener Libido macht. Dass Frauen das Sakrament der Weihe in den Stufen Bischof, Priester/Presbyter und Diakon nicht erhalten können ist nicht historisch-soziologisch („patriarchalisch“) oder psychologisch („frauenfeindlich“, was schon als Begriff eine Torheit ist), sondern in der sakramentalen (und eben nicht funktionalen) Natur dieses Sakraments selbst als Repräsentation Christus als Bräutigam der Kirche in ihrem Verhältnis zu ihr als seiner Braut. Interkommunion ist widersinnig, wenn das gemeinsame Glaubensbekenntnis, das die sichtbare Einheit der jeweiligen Glaubensgemeinschaft darstellt, nicht dem Sakrament, das wir empfangen, entspricht. Jeder weiß, dass gerade im Verständnis der Eucharistie als Messopfer oder bloßes Erinnerungsmahl sich die immer noch nicht mögliche volle Communio der Christen in der einen sichtbaren Kirche zeigt – trotz einer beachtlichen ökumenischen Annäherung seit den scharfen Kontroversen der Reformationszeit.
Nicht nur die Forderungen des Synodalen Weges verunsichern und irritieren Katholiken in der Weltkirche. Auch eine Perfomance im Frankfurter Kaiserdom hat etwa in den sozialen Netzwerken viele Menschen ratlos zurückgelassen. Sie leben seit Jahren in Rom. Wie nimmt man das Geschehen dort wahr?
Eine Kirche ist ein Gotteshaus, in dem es um die Anbetung Gottes, die Verkündigung seines Wortes und die Feier der Sakramente der Kirche geht. Wir bekennen uns in Worten und Zeichen zu dem Gott und Vater Jesus Christi und nicht etwa mit einer rainbowflag zu einer antichristlichen und unmenschlichen Ideologie.
In Ihrem letzten Buch, „In Buona Fede“ sprechen Sie davon, dass in Deutschland eine Situation herrsche, die schlimmer sei als ein Schisma. Können Sie das genauer erklären?
Schisma bedeutet die rechtliche Trennung von Ortskirchen von dem römischen Papst als dem sichtbaren Prinzip und Fundament der Einheit der Kirche unter Beibehaltung der wesentlichen katholischen Glaubenslehre und der sakramentalen-bischöflichen Verfassung der Kirche, wie im Fall der orthodoxen Ostkirchen. Hier haben wir es auch keineswegs mit einer Protestantisierung der katholischen Kirche zu tun, wenn wir an die gemeinsame Christozentrik denken.
Hier ist das Wesen des Christlichen preisgegeben zugunsten seiner Transformation in einer Variante der materialistischen und nihilistischen Wokekultur der Selbsterlösung und Selbsterschaffung des Menschen. Anstellt des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift und der kirchlichen Überlieferung bezieht man sich auf die „Autoritäten“ wie Michel Foucault, Judith Butler, Helmut Kentler oder Yuval Harari. Man kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben, das heißt im Kampf gegen die Pädophilie nicht die menschliche Sexualität dem Anspruch der Gebote Gottes und der Verwandlungskraft seiner Gnade entziehen und sie zu einem moralfreien Privatvergnügen herabwürdigen. Das hat die katholische Kirche seit Irenäus von Lyon den Gnostikern aller Zeiten nie durchgehen lassen, dass sie die sexuelle Promiskuität, die Vielehe und die Verwischung des Unterschieds von Mann und Frau ent-moralisieren mit dem Hinweis, dass Gott sich nicht um die materielle Welt und die Leiblichkeit des Menschen kümmere (Gegen die Häresien I, 28, 2).
Was ist der Grund dafür, dass ausgerechnet Deutschland Zentrum eines solchen Sonderweges ist? Die Erosion des Glaubens ist in ganz Europa in verschiedenen Schattierungen zu beobachten, dennoch trifft man etwa in Spanien, Frankreich oder Italien auf kein vergleichbares Phänomen.
Leider gibt es immer noch den Furor teutonicus, den unzähmbaren Hang, immer die ganze Welt belehren und beherrschen zu wollen. Die deutschen Katholiken leiden noch seit dem Kulturkampf im Bismarck-Reich und der Überlegenheitsansprüche der preußisch-protestantischen Leitkultur Bürger (und in der Theologie und Wissenschaft Gelehrte) zweiter Klasse zu sein. Es ist eine Ironie der Kirchengeschichte, dass bei der Herausforderung einer aggressiven De-Christianisierung des Westens die Katholiken ihren Minderwertigkeitskomplex mit dem Hinweis auf die gemeinsame Mediokrität überwinden wollen.
Spricht man mit Befürwortern des Synodalen Weges, so hört man als Gegenargument, dass die Gegner der Bewegung auch keine Lösungen hätten. Was halten Sie dem entgegen?
Wir brauchen uns überhaupt keine Lösung auszudenken, weil wir aus der Kraft der Erlösung Gottes leben. Es reicht, wenn wir mit Wort und Leben Zeugnis geben vom Evangelium Christi, dessen Kreuz intelligenter ist als alle Intellektuellen und stärker ist als alle Gewalt der Mächtigen und Reichen dieser Welt. Dann können wir jedem Rede und Antwort stehen, der uns nach dem Sinn und Grund der Hoffnung fragt, die uns im Leben und Sterben trägt (vgl. 1 Petr 3, 15).
Sie haben in dem Buch – für viele ihrer Kritiker überraschend – durchaus Reformen eingeräumt. Sie nennen Frauen und Laien als mögliche Anwärter auf Stellen wie Kurienämter und sehen auch Raum für das Frauendiakonat. Was ist hier der Unterschied zu den Forderungen des Synodalen Wegs?
In der Mitwirkung in allen Bereichen des kirchlichen Lebens außer den Kompetenzen des Weiheamtes – Bischof, Priester und Diakon – gibt es prinzipiell keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Reform heißt in der Kirche nicht die Anpassung des geoffenbarten Glaubens an von Menschen ausgedachte Ideologie oder die Umformung ihrer sakramentalen Verfassung in eine weltliche funktional-effektive Organisationsstruktur, sondern Erneuerung unseres personalen Verhältnisses zu Christus in Glaube, Hoffnung und Liebe.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hat in seinem Hirtenwort das bemerkenswerte Wort der „großen Transformation“ verwendet, die in diesem Zusammenhang notwendig sei. „Große Transformation“ ist auch ein Schlagwort der Ampelkoalition. Wie kann es sein, dass diese politischen Schlagworte einer bestimmten Ideologie Eingang in die Una Sancta gefunden haben?
Genau dies ist es, dass wir uns transformieren lassen von dem alten Menschen der Sünde Adams in den neuen Menschen in der Heiligkeit und Gerechtigkeit Christi. Die Kirche ist entweder christlich einig, heilig, katholisch und apostolisch oder politisch-weltlich ein Wurmfortsatz von Parteien, Gewerkschaften und NGOs.
Sie haben sich in den Corona-Jahren bewusst gegen die radikale Pandemiepolitik gestellt. Nicht nur die deutschen Bischöfe, sondern auch Rom ist damals einer Linie gefolgt, die der staatlichen Maßnahmenpolitik folgte. Gläubige wie Kirchenkritiker haben das als „Versagen“ wahrgenommen. Sind Staat und Kirche hier zu sehr Hand-in-Hand gegangen – oder steckt noch mehr dahinter?
Die Aufgabe der Kirche besteht darin, den Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden, sie einzeln in frohen und schweren Lebenslagen seelsorgerlich zu begleiten und ihren die Gnade Gottes in der Feier der Sakramente konkret zuzusagen. Einzelne Sicherheitsmaßnahmen sind nach bestem Wissen und Gewissen einzuhalten. Aber in einem demokratischen Rechtstaat darf sich keine politische Gewalt in das Verhältnis der Menschen als einzelne und als Gemeinschaft zu Gott einmischen. Wir sind freie Bürger und keine Untertanen. Wir können selbst unseren Verstand gebrauchen. Wir lassen uns von Experten in ihrem Fach auch gerne belehren, aber wir brauchen uns weder von ihnen noch von den Politkern gängeln und „erziehen“ zu lassen
Was raten sie den gläubigen Katholiken in Deutschland, die den Synodalen Weg beargwöhnen, aber nicht mehr wie früher den gewohnten Halt in Rom finden?
Ein Blick in die Kirchengeschichte hilft uns mit dem Auf und Ab leichter fertig zu werden. Uns Christen ist ja keine Erfolgsgeschichte wie in einem menschlichen Unternehmen verheißen, sondern der Beistand des Heiligen Geistes auch in Zeiten des Niedergangs oder sogar der Verfolgung. An der Börse steigen und fallen die Kurse. Wir leben aus dem Versprechen Jesu, dass er immer bei uns bleibt bis zum Ende der Welt. Den Felsen, auf den Jesus seine Kirche baut, können auch die Pforten der Hölle nicht überwinden. Aber der auf dem Stuhl Petri sitzt, kann wie der Namensgeber dieses Amtes persönlich versagen. Darum betet Christus für Petrus, dass sein Glaube nicht erlischt (vgl. Lk 22, 32).
Bei aller Treue zum Papst, die für einen Katholiken selbstverständlich ist, müssen wir doch auch immer klar daran festhalten, dass wir zur Kirche Christi gehören und Papst, Bischof und Priester nur seine – manchmal auch untreuen – Diener sind, die stets der Buße und Erneuerung bedürfen.