Der Historiker Gerd Koenen hat ein wunderschönes Zitat von Antje Vollmer überliefert. Darin beklagte sie sich über die männlichen 68er. Für die seien die Genossinnen nur dafür da gewesen, um ihre ewig langen Manuskripte abzutippen und sich dann quasi zum Dank durchs ungemachte Bett ziehen zu lassen. In dem Zitat steckte viel, was Antje Vollmer ausmachte.
Sie ließ sich von keinem Zeitgeist blenden. Dachte selbst, auch und gerade dann, wenn sie zu anderen Ergebnissen kam als alle anderen links und rechts um sie herum. Obwohl evangelische Theologin, konnte sie Klartext sprechen. Dabei war sie aber nicht nur eine Frau des Wortes. Die Macho-Attitüde linker 68er ließ Vollmer zu einer überzeugten Feministin werden. In einer Zeit, in der Frauen sich männliche Unterdrückung nicht suchen mussten – sondern massiv damit konfrontiert waren.
Vor den Irrungen des Zeitgeists war sie nicht gefeit. Zu sehr war Vollmer eine Sucherin – und zu sehr irrt der Mensch, so lang er strebt. 2018 schloss sich Vollmer „Aufstehen“ an. Was Sahra Wagenknecht damals als linke Sammlungsbewegung ankündigte, war letztlich doch nicht mehr als eine weitere linke Absplitterung. Vollmer erkannte das und war alsbald wieder weg. Trotzdem unterzeichnete sie fünf Jahre später Wagenknechts Friedensmanifest.
Nach dem Flop „Aufstehen“ gründete Vollmer die „Gruppe Neubeginn“ mit. Die auch ein Flop wurde. Aber zum einen war Vollmer eine Sucherin. Und wer sucht, der verirrt sich ab und an – das gehört dazu. Zum anderen war es ein Indiz dafür, dass eine linke Bewegung, die gegen Abweichler kämpft, wie es Grüne, Linke und Sozialdemokraten während der Pandemie selbst beim Tragen von Masken an der frischen Luft gemacht haben, dass eine solche Linke keine Bewegung für etwas Gutes ist.
Elf Jahre war Vollmer Vizepräsidentin des Bundestags. Die Zeit umfasste auch die komplette erste rot-grüne Regierungszeit. Es ist ein Posten, der kritische Geister ruhigstellen soll. Die Grünen können nur regieren, wenn sie kritische Geister wie Antje Vollmer auf ruhig stellen. Nur dass sie das nicht mehr nötig haben, da sich die kritische Generation verabschiedet. Es rückt eine Generation Jungpolitiker heran, die in Kreißsaal, Hörsaal und Plenarsaal nur gelernt hat, auf Linie zu sein. Umso mehr diese Generation die Partei prägte, desto weniger hatte Vollmer mit ihr zu tun.