Eigentlich wäre in der heutigen Sitzung des Bundeskabinetts der Haushaltsplan des Bundesfinanzministers, die sogenannten Eckwerte, an der Reihe. Doch Christian Lindner hat schon im Vorhinein klargemacht, dass es die erst geben wird, wenn er einen vernünftigen Etatentwurf vorliegen habe. Die Minister hatten im zuvor Zusatzwünsche von rund 70 Milliarden Euro angemeldet, die der Finanzminister für unerfüllbar hält, wenn die Schuldenbremse eingehalten und auf Steuererhöhungen verzichtet wird. Er macht also den Ministerkollegen Druck, sich kompromissbereit zu zeigen. Nicht auf ihm laste der Einigungsdruck, sagte er laut Welt am Sonntag, sondern: „Im Gegenteil müssen die Kolleginnen und Kollegen ein Interesse an einer raschen Einigung haben, da ihre finanzwirksamen Projekte ja ohne Haushalt nicht vorangetrieben werden.“
Zum Verständnis dieses Streits sollte man zurückblicken in die Zeit vor Lindner. Drei Jahre ist es her, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Olaf Scholz (SPD) als Finanzminister eine legendäre, gemeinsame Pressekonferenz gaben. Es war zu Beginn des ersten „Lockdowns“. Infantil war die Sprache. Die beiden begannen von „Bazooka“ und „Wumms“ zu schwadronieren. Allumfassend war das Versprechen: Der Staat werde für jede, wirklich jede Einbuße aufkommen, die den Bürgern als Folge der Pandemie-Maßnahmen entstünden.
Das tat der Staat nicht. Das wollte er nicht, wie die Unternehmer erfahren durften, die sich trotzdem in den Antragsdschungel begaben. Denn letztlich konnte der Staat dieses Versprechen auch gar nicht halten. Seine Hilfspakete wirkten wie eine Bazooka, die gegen die eigene Solvenz gerichtet war: Der Staat war bereits im ersten Halbjahr 2022 mit 2,34 Billionen Euro beim nichtstaatlichen Bereich verschuldet. Wumms. Das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr spielt in diesen Rechnungen noch keine Rolle. Das Geld für neue Waffen und angemessene Ausrüstung der Bundeswehr hat die Bundesregierung noch gar nicht abgerufen.
Würde man Deutschland mit einem Sportler vergleichen, so wäre es einer, der auf der Couch liegt und Chips in sich hineinstopft. Die Couch entspricht dem Investitionsstau des Landes. Unter Angela Merkel hat Deutschland aufgehört, angemessen in seine Infrastruktur zu investieren. Deswegen steht sein Internet-Empfang hinter dem von Schwellenländern zurück. Droht immer mehr Autobahnbrücken die Sperrung. Kann das Bahnangebot nicht zügig ausgebaut werden. Oder ist die Bundeswehr laut zuständigem Minister nicht verteidigungsfähig.
Die Chips sind die Sozialausgaben. Sie sind unter Merkel explodiert. Und auch die Regierung Scholz hat bisher nichts dafür getan, um sie zu dämpfen: 163,3 Milliarden Euro beträgt in Deutschland der Sozialetat. Das ist fast dreimal so hoch wie der zweitgrößte Etat des Bundes – der des Gesundheitsministers. Insgesamt liegt die Sozialleistungsquote bei deutlich über 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch die Einwanderung hat zu diesem Anstieg geführt. Die Pläne Nancy Faesers, Einwanderung auch und gerade für Nichtfachkräfte attraktiver zu machen, werden dieses Problem noch verschlimmern.
So wie Scholz und Altmaier vor drei Jahren haben auch andere Regierungsvertreter die Großereignisse bemüht, um die Verschuldung der letzten Jahre zu rechtfertigen: die Pandemie und den Ukraine-Krieg. Doch es sind eben nicht nur diese Sonderereignisse, die Deutschlands Schulden unaufhörlich klettern lassen. Es ist vielmehr die Art, wie deutsche Politiker ihre Politik machen. Das zeigt sich in Strukturen wie denen der Sozialausgaben. Aber das zeigt sich auch im konkreten Handeln der verantwortlichen Personen – oder besser gesagt: der unverantwortlichen Personen.
Ein schönes Beispiel lieferte dafür jüngst Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Der legte einen Entwurf für ein Verbot von Öl- und Gasheizungen vor. Den Punkt, was das Bürger und Wirtschaft kostet, sparte er einfach aus. Wie für jeden – außer für Habeck – erwartbar, kam es zu entsprechendem Protest. Um diesen zu befrieden, schlug der Minister vor, der Staat könne die Kosten subventionieren. Weil Habeck über die Folgen seines Gesetzes nicht nachgedacht hat, soll der Steuerzahler nun für eben diese Folgen aufkommen. So funktioniert verantwortungslose Politik. Schon weil Habeck mit der Gas-Umlage planlos herumstümperte, musste am Ende der Steuerzahler einspringen. Der Rettungsfonds für Habecks gescheiterte Politik hört entsprechend auf den Kinderbuch gerechten Namen „Doppelwumms“.
Ähnlich agiert Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der muss die Pflegeversicherung reformieren, was er durch zusätzliche Steuern tun will. Genau wie bei der Krankenversicherung. Oder den Impfschäden. Oder zu viel bestellten Impfdosen. Oder zu viel bestellten Dosen Paxlovid. Und dann kommen dem Minister noch zusätzliche Ideen, für die er weiteres Geld der öffentlichen Hand ausgeben will. Etwa die „Gesundheitskioske“ oder eine Patienten-Stiftung. Für all das fordert er weiteres Geld aus den Kassen des Bundes, der Länder und der Sozialversicherungen.
70 Milliarden Euro an zusätzlichem Bedarf haben die anderen Ressorts bei Finanzminister Christian Lindner (FDP) angemeldet. Der sagt Nein. Er wolle an die Ausgaben heran. Wenn Lindner an dieser Stelle konsequent bleibt, wäre das durchaus berechtigt. Denn obwohl der Staat durch die Inflation Steuereinnahmen wie noch nie feiert, ist seine Verschuldung weiter gestiegen. So stark, dass der Bundesrechnungshof sogar vor Handlungsunfähigkeit warnt. Wobei die Berichte von den Rekorden bei Steuereinnahmen in die Irre führen. Sie tun so, als ob der Staat besonders erfolgreich wirtschaften würde: Der Satz „Noch nie mussten Bürger so viel von ihrem Geld an den Staat abtreten“, würde indes den Vorgang weit besser beschreiben.
Wenn Linder konsequent bleibt, müssten Politiker wie Habeck oder Lauterbach ihren Stil komplett ändern. Bisher agieren sie wie verwöhnte Kinder, die durch den Supermarkt laufen und einfach alles haben wollen, was sie sehen. Wenn Lindner konsequent bleibt, müssten Habeck, Lauterbach und Co zu Jugendlichen heranreifen, die mit ihrem Taschengeld umgehen können. Wenn. Groß geschrieben. Der Finanzminister hat den Entwurf für den Haushalt auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Spiegel spricht von Juni. Das wäre ein kluger Zeitpunkt. In diesem Sommer gibt es kein großes Sportturnier. Räumt Lindner die Debatte um Ausgabenwünsche bis dahin nicht ab, gehört die Bühne für das Sommertheater ihm.
Gegen sich stehen hat der Finanzminister einen Bürger, der über die höchste Last an Steuern und Sozialabgaben nicht mehr so recht klagt. Im Gegenteil: Wenige Wochen, nachdem Scholz und Altmaier das Versprechen des sorgenfreien Staats abgegeben haben, der jede Corona-Rechnung bezahle, zeigte eben dieser Staat Werbespots, nach denen ein Held sei, wer auf seinem heimischen Sofa liegen bleibe. Eine Einstellung, die dem Bürger ins Blut gegangen ist. Der Staat soll das lösen, ist für den Deutschen das geworden, was für den ramponierten Sportler „Morgen fange ich an mit der Diät“ ist. Ebenso wie dem Bürger geht es der einst bürgerlichen CDU. Die fordert von der Ampel für alles und jeden die großen Staatsausgaben – sogar für Verleger und ihre Anzeigenblättchen.
Die Staatsverschuldung ist nicht das Problem. Sie ist ein Symptom. Und sie ist ein Teil im deutschen Problempuzzle: Die Niedrigzinspolitik ist vorbei. Die EZB hat und wird die Leitzinsen anheben müssen, sei es, um die Inflation zu bekämpfen oder um nicht zu stark gegen den Dollar abzufallen. Jeder Prozentpunkt höhere Leitzinsen kostet die staatlichen Kassen 23 Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichen Ausgaben. Tendenz steigend. Wer in der Situation die Staatsschulden weiter in die Höhe treibt, legt die Hand enger an die Gurgel der Leistungsfähigkeit des Staates. Oder um in der Metapher zu bleiben: Sie fordert Deutschland auf, weiter auf dem Sofa liegen zu bleiben, und drückt ihm neben der Tüte Chips noch eine Flasche Cola in die Hand.
Parallel zur steigenden Verschuldung sinkt die Wirtschaftskraft, weil Unternehmen ihre Produktion angesichts der ultrahohen Stromkosten reduzieren müssen. Oder gleich ins Ausland abwandern. Die Unternehmen, die bleiben wollen, finden nicht genug ausgebildete und willige Arbeitskräfte. An willigen Arbeitskräften fehlt es auch deshalb, weil die Lücke zwischen Netto-Einkommen und Bürgergeld viel zu niedrig ist – und durch zusätzliche Erhöhungen von Steuern und Sozialabgaben weiter schwindet. Auf der Couch liegen zu bleiben, ist für den Deutschen attraktiver, als an die frische Luft zu gehen und Sport zu treiben. Lindner hat recht, wenn er an die Ausgabenseite des Staates ran will. So was von recht. Die Frage ist nur, ob er sich auch durchsetzt.
Der Trend ist – das muss man fairerweise zugeben – gegen Lindner. Das System der verantwortungslosen Politik verfügt über so viele Beharrungskräfte wie ein fetter Po auf dem Sofa. Nur dass die Dimensionen bald alle Vorstellungen zu sprengen drohen. Etwa mit dem Sanierungsgebot, an dem die Europäische Union arbeitet. Das würde in letzter Konsequenz Millionen Menschen buchstäblich um ihr Heim bringen – und in Deutschland werden EU-Richtlinien mit aller Konsequenz umgesetzt. Bleibt die verantwortungslose Politik, müsste dann der Staat ein gigantisches Subventionsprojekt für die wohnungslosen Bürger auflegen, die er selbst wohnungslos gemacht hat. Ein Irrsinn.
Lindner hat erkannt, dass der Staat in einem gefährlichen Zyklus gefährlich weit gekommen ist. Deutschland müsste dringend von der Couch runter. Müsste seine Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen. Doch eine unausgesprochene Koalition aus SPD, Grünen und CDU suggeriert dem Land, es könne liegen bleiben, Chips und Cola genießen, vielleicht noch etwas Schoki. Von Infarkt will keiner etwas hören. Doch bleiben Reformen aus, die aus etwas anderem als Geldverteilen bestehen, droht eben dieser Infarkt.