Bei der Cancel Culture geht es um weit mehr als nur darum, Prominenten, Wissenschaftlern oder anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine Plattform zu verwehren. Sie ist viel mehr als nur die Zensur von Meinungen. Die Intoleranz der Cancel Culture ist tief in unseren Institutionen verankert. Das beginnt mit der Verlagswelt, die vor noch nicht allzu langer Zeit eine der tolerantesten Institutionen war und nun auch unter ihren Einfluss geraten ist.
Zumindest in den USA und Großbritannien entwickelt sich das Verlagswesen zu einem Berufsfeld für ambitionierte Möchtegern-Zensoren. Das zeigte sich kürzlich, als eine Personengruppe aus der gesamten amerikanischen Verlagsbranche einen offenen Brief an The Bookseller (einer Zeitschrift, die über Neuigkeiten aus der Verlagswelt berichtet) schrieb. In dem Schreiben mit dem Titel „Das Paradoxon der Toleranz“ wird die Branche aufgefordert, Maßnahmen zur Verhinderung von Transphobie zu ergreifen.
Anfang 2021 reichten die Mitarbeiter von Simon & Schuster in New York eine Petition ein, in der sie darauf drängten, dass der Buchverlag seine Beziehungen zu Autoren, die mit der Trump-Regierung in Verbindung stehen, aufkündigt. Die Petition, die von 216 Mitarbeitern unterzeichnet wurde, erhielt die Unterstützung von über 3500 weiteren, externen Unterzeichnern – darunter auch bekannte schwarze Schriftsteller wie Jesmyn Ward. Die Petition richtete sich vor allem gegen einen Vertrag über zwei Bücher, den das Unternehmen mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Mike Pence abgeschlossen hatte. Zahlreiche deutsche Zeitungen berichteten wohlwollend über die Initiative. In einem Kommentar der Frankfurter Rundschau zum Beispiel hieß es lapidar, Mike Pence komme aus den schlechten Nachrichten nicht heraus. Da die neuen Inquisitoren der Überzeugung sind, die Meinung von Pence sei weniger wert als ihre eigene, wird das Canceln einer der führenden Stimmen der Republikanischen Partei als gerechte Sache dargestellt.
Es ist offensichtlich, dass ein Teil der im Mediengeschäft Beschäftigten zunehmend eine Kontrolle über die von ihren Unternehmen produzierten oder anderweitig verbreiteten Inhalten fordert. Vor allem manche der jüngeren Angestellten im Mediengeschäft sind offensichtlich nicht bereit, Themen, Verlage oder Autoren zu tolerieren, die sie politisch ablehnen – oder als beleidigend und verletzend empfinden. So kam es im Herbst 2021 zu Boykottaufrufen gegen die Frankfurter Buchmesse, weil dort der Verlag Jungeuropa, der Bücher aus der neurechten Szene veröffentlicht, ausstellen durfte. Man müsse sich fragen, sagte die Journalistin und Moderatorin Hadija Haruna-Oelker, was die Präsenz dieses Verlags emotional und psychisch für betroffene Personen bedeuten würde.
Die Chefs der großen Verlage haben diesen Trend bereits mit Sorge zur Kenntnis genommen: Neue Mitarbeiter, hieß es kürzlich in einer Ausschusssitzung des britischen Oberhauses, an der der Vorstandsvorsitzende der Hachette Book Group und die Literaturagentin Clare Alexander teilnahmen, sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie möglicherweise mit Büchern von Personen arbeiten müssten, mit denen sie nicht einverstanden seien.
Ablehnung der westlichen Kultur
Die Cancel Culture zeigt sich in unterschiedlichen Facetten. Ihre Befürworter behaupten oft, es gehe um die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts. Sie propagieren die Notwendigkeit einer „Dekolonisierung“ der Vergangenheit sowie der Kulturinstitutionen im Allgemeinen oder der Bildung im Besonderen. Deswegen ist eines der prominentesten Ziele der Cancel Culture die westliche Hochkultur. Der Versuch, diese Kultur zu diskreditieren, hat in den letzten Jahren einen nie gekannten Aufschwung erfahren. Unzählige der großen, inspirierenden Persönlichkeiten der Vergangenheit – von William Shakespeare über Immanuel Kant bis hin zu Ludwig van Beethoven – sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, „zu westlich“, „zu weiß“ oder „zu rassistisch“ zu sein. Von dem Ruf nach Dekolonisierung sind alle Bereiche der Kultur betroffen: die Literatur, die Philosophie, die klassische Musik, das Ballett und die Oper.
Begründet wird diese Feindseligkeit gegenüber der klassischen Kultur damit, dass sie alt, westlich, sexistisch oder sogar homophob sei. Das traditionelle meritokratische Kriterium bei der Beurteilung der literarischen oder musischen Qualität wird von den Vertretern der Dekolonisierungsbewegung abgelehnt oder kritisiert: Die westliche klassische Tradition, heißt es zum Beispiel in einem Beitrag der Szene, habe sich in der Welt nur deshalb durchsetzen können, weil sie sich auf machtvolle politische und militärische Strukturen gestützt habe. Qualität als wichtigstes Kriterium für die Beurteilung von Musik anzusehen, würde die inhärenten Privilegien ignorieren, die viele im Westen genössen, behauptete die Sängerin Sonya Holowell bei einem internationalen Operngipfel in Australien.
Interessant ist, dass die Klassiker vor allem deswegen angeprangert werden, weil sie zu alt – also eben Klassiker – sind. Vor einigen Jahren unterzeichnete eine Gruppe von mehr als 190 australischen Komponisten, Regisseuren und Musikern einen „Aufruf zum Handeln“, um Sexismus und geschlechtsspezifische Gewalt aus Opernwerken zu entfernen. Eine Kommentatorin, die diesen Aufruf unterstützte, schrieb, dass die Oper in einer rassistischen, sexistischen Vergangenheit feststecke. Sie nahm insbesondere Anstoß daran, dass der Opernkanon auch heute noch auf „toten Komponisten“ wie Mozart, Puccini, Verdi, Wagner und Rossini beruhe.
Auch sind diese Debatten keineswegs auf den angelsächsischen Sprachraum beschränkt, sondern haben längst in Deutschland Einzug gehalten: Das Repertoire der Musiktheater wimmele von rassistischen und sexistischen Klischees, hieß es etwa in einem Programm des Deutschlandfunk Kultur. Wer einen Spielplan auf der Höhe des Diskurses fordere, müsste einen großen Teil davon für unspielbar erklären. Operetten und Musicals sollten daher mit politischem Feingefühl inszeniert werden, so das Fazit der Sendung. Über diesen Umweg der Kritik an Komponisten, die vor langer Zeit gelebt haben, wird gleichzeitig das künstlerische und kulturelle Erbe delegitimiert, auf dem die westliche Zivilisation gegründet wurde – und auf dem sie gedeihen konnte.
Roll over Beethoven
Es sollte nicht überraschen, dass faktisch jeder große klassische Komponist, Dichter oder Schriftsteller im Fadenkreuz der kulturellen Säuberung steht. Nehmen wir den Fall des armen Beethoven. Einige verwirrte Anhänger der Identitätspolitik in den USA behaupteten bis vor kurzem auf Twitter, dass dieser große Komponist eine schwarze Hautfarbe gehabt hätte! Vor sechs Jahren prangerte The Concordian, eine von Studenten betriebene Zeitung aus Minnesota, die „Weißwaschung“ (Englisch: „whitewashing“) des Vermächtnisses dieses Komponisten an. Die Zeitung beschrieb Beethoven als einen Mann mit einem volllippigen Mund, einer kurzen, breiten Nase und einer stolz gewölbten Stirn. Doch seitdem die Debatten über Identität eskaliert sind, hat sich das Argument radikal gewandelt. Das Problem mit Beethoven, so die heutige Botschaft, sei, dass er „zu weiß“ ist!
In jüngster Zeit hat die Feindseligkeit gegenüber der klassischen Musik eine durch und durch rassistische Dimension angenommen. Im Einklang mit dem aktuellen, von Black Lives Matter beeinflussten, Zeitgeist haben sich viele führende Vertreter der klassischen Musik der Kritik angeschlossen, dass die Musikinstitutionen durch ihre Verbindung mit weißer Vorherrschaft unrettbar kompromittiert seien. „Wie rassistisch ist der Kanon der klassischen Musik?“, fragt die Journalistin Hannah Schmidt auf Zeit Online. In der angloamerikanischen Welt ist es für die Vertreter der klassischen Musik unterdessen verpflichtend, sich dafür zu entschuldigen, dass ihre Kunst mit dem „Weißen Privileg“ verknüpft sei. Letztes Jahr entschuldigte sich zum Beispiel der bekannte Kritiker Alex Ross im New Yorker feige dafür, ein „weißer Amerikaner“ zu sein. Er beschrieb seine Welt als eine, die blendend weiß sei, sowohl in ihrer Geschichte als auch in ihrer Gegenwart.
Dem Verhalten von Teilen des Kunstbetriebs nach zu urteilen, könnte man meinen, dass die Konzerthallen und Opernhäuser Brutstätten des Rassismus und des weißen Nationalismus seien. So versprach die Chefin des Opernhauses von Sydney, Louise Herron, vor einigen Monaten, jeglichen systemischen Rassismus innerhalb ihrer Organisation auszumerzen. Der Grund war, dass sich ein idiotischer Opernmitarbeiter bei einem Maskenball das Gesicht schwarz bemalt hatte. Das allein reichte, um eine Schauergeschichte über den angeblich systemischen Rassismus in dieser Organisation zu verbreiten.
Von einem „Rassismus-Eklat“ war auch die Rede, nachdem am Staatstheater Nürnberg der Opernregisseur Peter Konwitschny wegen einer Äußerung gegenüber einer schwarzen Sängerin entlassen wurde. Bei einer Probe hatte Konwitschny, nach eigenen Angaben, der Sängerin erklären wollen, wie sie auf eine gespielte Gefahr zu reagieren habe. „Das ist wie in Afrika, wenn Ihnen ein Löwe entgegenkommt, dann können Sie auch nicht weggucken“, soll er ihr erklärt haben. Das war vielleicht eine dumme Bemerkung, aber dass sie in seiner Entlassung endete, ist Ausdruck des Zeitgeistes, der keine Nachsicht kennt.
Bei der Rassifizierung der klassischen Musik reicht der Vorwurf des Weißseins aus, um ihr Erbe zu delegitimieren. Philip Ewell, ein amerikanischer Professor für Musiktheorie, ist zu einem der prominentesten Verfechter der These geworden, dass die klassische Musik unverbesserlich weiß und somit rassistisch sei. Ewell behauptet, die weiße Vorherrschaft sei in der Lehre, der Darstellung und der Interpretation klassischer Musik ein offenkundiger Fakt. Dieser Auffassung zu Folge sind alle Werte, die in der klassischen Musik gefeiert werden, Ausdruck des Weißseins. Besonders verächtlich äußert sich Ewell gegenüber Beethoven, den er als „kein großes Ding“ abtut. Diesem von rassischen Betrachtungen geprägten Narrativ zufolge genießt Beethoven nur deshalb weiterhin Anerkennung, weil er „seit 200 Jahren von Weißen und Männern gestützt wird“. Ewells Urteil lautet, dass Beethoven nicht mehr als ein „überdurchschnittlicher Komponist“ gewesen sei.
In Deutschland wird Ewell zwar immer wieder in der Presse zitiert. Seiner Haltung Beethoven gegenüber wollen die meisten Kommentatoren jedoch noch nicht folgen. Das ist in den USA anders. Nach einem Vortrag bei der Society for Music Theory wurde er mit stehenden Ovationen bedacht. Die Gesellschaft – deren Mitglieder überwiegend weiß sind – war begeistert von dem, was sie hörte. Nachdem in einer kleinen Fachzeitschrift Kritik an Ewell geäußert worden war, erklärte ihr Vorstand später, er erkenne demütig an, dass man noch viel zu tun habe, um das Weißsein und den systemischen Rassismus, die die Disziplin zutiefst prägten, abzubauen.
Der literarische Kanon
In der literarischen Welt ist das Canceln klassischer Werke inzwischen weit verbreitetet. Es gibt heute einen konzertierten Versuch, einige der wichtigsten Werke des literarischen Kanons zum Verschwinden zu bringen. Selbst Homer, dessen „Ilias“ und „Odyssee“ nicht nur die grundlegenden Werke der griechischen Literatur, sondern auch der westlichen Zivilisation an sich sind, wird von den kulturellen Kreuzzüglern mit Verachtung abgetan.
„Wir sind sehr stolz darauf, dass wir die Odyssee dieses Jahr aus dem Lehrplan gestrichen haben“ , rühmte sich eine Lehrerin aus Massachusetts kürzlich in den sozialen Medien. Wenn eine Englischlehrerin damit prahlt, dass Homers „Odyssee“ aus dem Lehrplan entfernt wurde, und dafür von ihren Followern Beifall erwartet, wird deutlich, dass sogar das Klassenzimmer zu einem Schlachtfeld im Kulturkampf geworden ist.
Angriff auf die Aufklärung
Im angloamerikanischen Raum ist die Cancel Culture ein einzigartiger Angriff auf das Erbe der Aufklärung. Es findet eine regelrechte Kampagne zur Abschaffung aller wichtigen Persönlichkeiten der Aufklärung statt. Nehmen wir das Beispiel der Universität Edinburgh. Diese altehrwürdige Institution hat beschlossen, einen Schritt weiter zu gehen, um sich von ihrem wichtigsten intellektuellen Erbe, der schottischen Aufklärung, zu distanzieren. Die Universität hat vor kurzem entschieden, ihren David-Hume-Turm umzubenennen, weil Studenten behaupteten, dass Äußerungen des Philosophen aus dem 18. Jahrhundert zum Thema Rasse problematisch seien. In ihrem Schreiben an die Studenten erklärt die Universitätsleitung, es sei wichtig, dass Campus, Lehrpläne und die Gesellschaft sowohl die gegenwärtige als auch die historische Vielfalt der Universität widerspiegelten. Die Universität müsse sich mit ihrem internationalen, institutionellen Erbe auseinandersetzen. Offensichtlich ist die Verwaltung bereit, das einzige institutionelle Erbe zu verwerfen, das dieser Universität Weltruhm eingebracht hat. Ohne den Beitrag der schottischen Aufklärung wäre sie nur eine weitere provinzielle Bildungseinrichtung.
Die Ablehnung Humes ist mehr als nur ein Angriff auf seinen Ruf. Sie stellt einen wichtigen symbolischen Sieg für den identitätspolitisch motivierten Kreuzzug gegen das intellektuelle Erbe der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen und der Aufklärung im Besonderen dar. Praktisch alle großen Philosophen, die zur Entwicklung der Toleranz, der Freiheit und anderer liberaler Ideale beigetragen haben, sind zur Zielscheibe von Kulturkämpfern geworden, die darauf abzielen, die Kultur zu entkolonialisieren und die heutige Gesellschaft zu zwingen, sich von ihrem geistigen Erbe zu lösen. Aus dieser Perspektive ist John Locke, dessen Philosophie zur Entstehung des Toleranzgedankens beigetragen hat, einfach nur ein Rassist aus dem 17. Jahrhundert. Für Adam Smith, eine weitere herausragende Persönlichkeit der schottischen Aufklärung, gilt das ebenfalls. Nach Ansicht eines Kritikers bestand Smiths Sünde darin, eine Unterscheidung zwischen „wilden“ und „zivilisierten“ Völkern getroffen zu haben.
Zu den vermeintlich rassistischen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts gehört auch Immanuel Kant, der wohl einflussreichste Denker der Aufklärung. In einem Dossier des Vereins „Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag“ (BER), der vom Bund und vom Land Berlin gefördert wird, heißt es, dass „die preußischen Philosophen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel geistige Wegbereiter des Kolonialismus“ gewesen seien, „weil sie Versklavung und Kolonialismus mit ihren rassistischen Positionen rechtfertigten“. Der Verein fordert die Umbenennung von Straßen, die nach Rassisten oder Kolonialisten benannt sind.
Kein bisschen besser ergeht es den großen Naturwissenschaftlern. So hat das Natural History Museum in London erklärt, dass es eine Untersuchung seiner Charles-Darwin-Sammlung einleiten werde, um herauszufinden, ob sie als „anstößig“ gelten könnte. Ein Kurator warnte, dass einige Personen die von Darwin gesammelten Objekte als „problematisch“ empfinden könnten. Und warum? Weil dieser Kurator glaubt, dass Darwins Reise zu den Galapagos-Inseln auf der HMS Beagle eine der vielen wissenschaftlich-kolonialistischen Expeditionen Großbritanniens war.
Als Reaktion auf die Proteste von Black Lives Matter haben Universitäten und Museen die Waffen gestreckt und mehr oder weniger erklärt, dass sie bereit sind, alles zu beseitigen oder abzuwerten, was potenziell anstößig sein könnte. Darwin, der viktorianische Dogmen in Frage stellte und das Verständnis der Gesellschaft für die natürliche Welt revolutionierte, wird wie beiläufig beiseite geschoben, um die Kreuzritter gegen die Vergangenheit zu besänftigen. Das Gleiche gilt für Alexander von Humboldt. In Deutschland wird seit einigen Jahren eifrig an der Diskreditierung des großen Naturforschers, der sich vehement für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, gearbeitet. Angelastet wird ihm, dass er seine Forschungen in Lateinamerika nur dank der Unterstützung der spanischen Krone betreiben konnte. Das allein reicht aus, ihn als einen Kolonialisten zu bezeichnen. Auch er steht auf der Liste derer, die die Straßen Berlins umbenennen wollen, und befindet sich dort in der guten Gesellschaft von Rudolf Virchow und Robert Koch.
Überall Rassisten
Die Säuberung der Vergangenheit von Dingen, die wir heute als problematisch empfinden, ist normalerweise kein integraler Bestandteil des akademischen Berufs. In jüngster Zeit aber haben sich Gruppen von Wissenschaftlern, Universitätsverwaltern und Aktivisten zusammengetan, um eine Kulturrevolution einzuleiten, die darauf abzielt, den Einfluss des Erbes der westlichen intellektuellen Errungenschaften zu beseitigen.
Im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste wurde eine Gruppe von 21 Wissenschaftlern mit der Aufgabe betraut, die Verbindungen des Imperial College London zum britischen Empire zu untersuchen. In ihrem Bericht kam diese Gruppe von Amateur-Inquisitoren zu dem Schluss, dass drei Gebäude und Hörsäle umbenannt und zwei Statuen entfernt oder umgesetzt werden sollten. Der wichtigste Name, der gecancelt werden sollte, war der des Biologen Thomas Henry Huxley. Die inquisitorische Untersuchung unter der Leitung von Nilay Shah, einem Professor für Systemtechnik der Hochschule, kam zu dem Schluss, dass Huxleys Theorien als rassistisch bezeichnet werden könnten, weil er rassische Unterteilungen und hierarchische Kategorisierungen in seinen Studien nutzte, um die Ursprünge der menschlichen Evolution zu verstehen.
Der Satz „könnte als Rassist bezeichnet werden“ ist ein fester Bestandteil des Vokabulars der Empörungsarchäologie. Er zeugt von einer Denkweise, die obsessiv nach der kleinsten Spur von irgendetwas sucht, das als Beweis für die Verurteilung historischer Persönlichkeiten dienen könnte – Persönlichkeiten, die ihren Anklägern nicht mehr Rede und Antwort stehen können. Es ist kein Geheimnis, dass Huxley, wie praktisch alle großen Denker seiner Zeit, die menschliche Evolution durch das Prisma der Rassenunterschiede interpretierte. Doch im Gegensatz zu den meisten Verfechtern der Rassenhierarchie spielte auch er – ähnlich wie Alexander von Humboldt – eine aktive Rolle im Kampf für die Befreiung von Sklaven. Nach objektiven Maßstäben sollte das geschichtliche Urteil anerkennen, dass seine Bindung an die Vorurteile seiner Zeit durch seine Rolle als Abolitionist und als Mann der Wissenschaft bei weitem aufgewogen wird. Huxley war ein Mann, der einen offenen Geist besaß und entschlossen war, die Ansichten und Vorurteile seiner Zeit zu hinterfragen. Es war Huxley, der sagte, dass Skepsis die höchste Pflicht aller sei. Die größte Sünde gegen den menschlichen Geist war nach Huxley der blinde Glaube an Dinge, für die es keinen Beweis gibt.
Zu Lebzeiten wurde Huxley mit solchen Idealen in Verbindung gebracht, die darauf zielten, eine hinterfragende und wissenschaftliche Haltung gegenüber der Welt zu fördern. Sein vehementes Engagement für wissenschaftliche Objektivität und sein Eintreten für den Wert des Skeptizismus trugen zur Schaffung eines Meinungsklimas bei, das schließlich zur Diskreditierung des rassistischen Denkens führen sollte. Wäre er noch am Leben, würde er verstehen, warum sich die Cancel Culture gegen ihn richtet. Er war ein erbitterter Gegner genau jenes Dogmatismus, der seine Inquisitoren heute antreibt. Er hätte sehr sorgfältig nachgedacht, bevor er den Ruf von jemandem in Frage stellt, mit dem er nur wenig Kontakt hatte. Huxley war der ultimative Anti-Dogmatiker. Als Kritiker der organisierten Religion erfand er die Begriffe „Agnostiker“ und „Agnostizismus“, um seine eigenen Ansichten zu beschreiben.
Der Entschluss des Imperial College, den Namen Huxleys von einem seiner Gebäude zu entfernen, ist ein weiterer Triumph der anklagenden Geschichtsinterpretation. Das Ziel der Ankläger ist die Zurschaustellung der eigenen moralischen Überlegenheit, während die Identität ihrer Gegner diskreditiert werden soll. Die Ankläger versuchen, Identitäten zu kultivieren, indem sie sich selbst innerhalb einer Revanchisten-/Opfer-Version der Vergangenheit verorten. Diese anklagende Geschichtsinterpretation ist nicht nur daran interessiert, den Ruf wichtiger historischer Persönlichkeiten zu beschädigen. Die Ablehnung von Huxley ist mehr als nur ein Schlag gegen den Mann selbst und seinen Ruf. Sie stellt einen wichtigen symbolischen Sieg der Identitätspolitik und ihres Kreuzzugs gegen das intellektuelle Erbe der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen und der Aufklärung im Besonderen dar.
Die narzisstischen Inquisitoren, die ihre Tugendhaftigkeit unterstreichen wollen, indem sie sich an der Vergangenheit rächen, werden nicht das letzte Wort haben. Sie können zwar die Statue von Huxley beseitigen oder den Namen Alexander von Humboldts mit Rassismus in Verbindung bringen, aber sie können die beachtlichen wissenschaftlichen Leistungen der beiden Forscher nicht wegzaubern. Die Forscher selbst können auf die Angriffe nicht reagieren, denn sie sind seit langem tot. Das müssen sie aber auch gar nicht, denn ihre Leistungen sprechen für sich.
Leugnung der Cancel Culture
Trotz ihres Einflusses, der in immer mehr Bereiche hineinwirkt, bestehen viele Befürworter der Neugestaltung von Sprache und der Regulierung von Redefreiheit darauf, dass es so etwas wie eine „Cancel Culture“ nicht gebe. Für die Leugner der Cancel Culture gibt es keine Krise der Meinungsfreiheit. Diejenigen, die öffentlich wachsende Intoleranz beklagen, seien lediglich unehrliche Mythenverbreiter. Cancel Culture sei die Antwort auf das Emanzipationsbestreben marginalisierter Gruppen, glaubt zum Beispiel ein Kommentator bei Zeit Online. Ihm zufolge ist das Gerede von Cancel Culture nichts weiter als die Kulturalisierung von Meinungsverschiedenheiten. Ähnlich argumentiert die britische Journalistin Nesrine Malik. Sie nennt die Krise der freien Meinungsäußerung einen Mythos und versucht, den Spieß umzudrehen: Die übertriebene Angst vor einer Zensur werde von denjenigen befördert, die die Hassrede normalisieren und Minderheiten zum Schweigen bringen wollten. Ihr zufolge ist die Leugnung der Cancel Culture eine wichtige Waffe gegen all diejenigen, die den Rassismus entstigmatisieren wollten.
Wenn man zwischen den Zeilen der zahlreichen Kommentare liest, in denen der „Mythos“ der Cancel Culture angeprangert wird, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Autoren wirklich an ihre eigene verschwörungstheoretische Erklärung einer künstlich herbeigeführten Krise glauben. Die Art und Weise, wie sie die Existenz von Cancel Culture leugnen, erinnert sehr an die 1980er und 1990er Jahre, wo es gang und gäbe war zu behaupten, die Politische Korrektheit sei ein Mythos. Trotz der stetigen Zunahme der Sprachzensur und der Erfindung eines völlig neuen Wortschatzes wurde behauptet, an dem Vorwurf der Politischen Korrektheit sei nichts dran. Offenbar war auch das ein Mythos der Rechten.
Die Behauptung, es gebe keine „Cancel Culture“, fällt oft mit einer anderen Form des Leugnens zusammen – der Leugnung eines Kulturkampfs. Viele Aktivisten, die historische Statuen ins Visier nehmen oder das intellektuelle oder moralische Erbe der westlichen Zivilisation in Frage stellen, betonen, dass sie keine Kulturkrieger seien. Ihre Kulturkampfleugnung geht einher mit der Behauptung, dass diejenigen, die solche Statuen vor Vandalismus schützen wollen, die Verantwortung für die Entfesselung eines kulturellen Konflikts trügen.
In den 1960er Jahren gab es mehr Klarheit über den Kulturkampf. Es war die Zeit der Gegenkultur, und ihre Anhänger hatten keine Hemmungen zuzugeben, dass sie vehement gegen die vorherrschende Kultur ihrer Gesellschaft vorgehen wollten. Die Verfechter der Gegenkultur wussten zwar, wogegen sie sich wehrten, waren sich aber weit weniger der Kultur sicher, die sie befürworten wollten. Zu dieser Zeit und in den 1970er Jahren wurde die Gegenkultur manchmal auch als „gegnerische Kultur“ (adversarial culture) bezeichnet. Begriffen wie „Gegenkultur“ und „adversarial culture“ sowie den später verwendeten Begriffen wie „Politische Korrektheit“ fehlt es allerdings an Klarheit und Präzision. Ihnen allen unterliegt eine Reihe von impliziten Annahmen – eine Ideologie ohne Namen. Die Verwendung des Begriffs „Cancel Culture“ ist nur der jüngste Versuch, ein politisches Phänomen zu benennen, das sich weigert, seine eigene Existenz anzuerkennen.
Sehr beliebt bei Leugnern der Cancel Culture ist die Behauptung, Menschen, die sich über die Bedrohung ihrer Lebensweise Sorgen machen, lebten in einer Fantasiewelt. Aus dieser Perspektive gibt es so etwas wie Cancel Culture nicht. Ein Kolumnist der New York Times, Charles Blow, tut die Besorgnis über die Förderung der Kritischen Rassentheorie oder der Transkultur als eine Form von Nervenzusammenbruch („Freakout“) ab. Er behauptet, die Republikaner hätten diese Probleme erfunden, um ihren Wählern Angst zu machen und sie zu mobilisieren. Blows vermutet, die eigentliche Motivation der Gegner der „Woke Cancel Culture“ sei die Sorge um die eigenen weißen Privilegien. Die Republikaner wüssten, schreibt er, dass es ein paar kulturelle Knöpfe gibt, die sie drücken könnten, um problemlos Angst und Empörung zu erzeugen und ihre Wähler zu den Wahlurnen zu bringen. Die dafür geeigneten Themen seien der soziale Aufstieg nicht-weißer Menschen, die Einwanderung nicht-weißer Menschen, eine Bedrohung der weißen Sicherheit, eine Verdrängung der weißen Macht und der weißen Kultur, eine Ausweitung der Rechte für „Schwule“ und die Abtreibung.
Aus Blows Sicht bedienen die Republikaner kulturelle Vorurteile, während die Protagonisten der Cancel Culture für Gerechtigkeit kämpfen. Der Ausdruck „kulturelle Vourteile bedienen“ ist insofern von Bedeutung, als er sich ausschließlich auf das bezieht, was Menschen tun, wenn sie an ihrer gewohnten Lebensweise festhalten wollen. Blow und seine Mitdenker gehen davon aus, dass die Verteidigung des traditionellen Lebens sowohl illegitim als auch eine Bedrohung für Menschen ist, die, aus ihrer Sicht, auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Allerdings zögern er und andere, ihren Kulturkrieg beim Namen zu nennen, weil sie sonst erklären müssten, dass sie einen Krieg führen.
Der aktuelle Kulturkampf hatte keinen erkennbaren Startschuss. Anders als bei den Konflikten der Vergangenheit hat niemand den Institutionen der Gesellschaft den Krieg erklärt. Dennoch ist dieser Konflikt ein existenzieller Kampf um die Definition dessen, was uns ausmacht. In seiner bedeutenden Studie über die Geschichte stellte der Historiker Jacob Burckhardt im 19. Jahrhundert fest, dass Religionskriege deswegen so schrecklich seien, weil bei ihnen die Mittel des Angriffs und der Verteidigung unbegrenzt seien. Religionskriege setzten, so Burkhardt, die gewöhnliche Moral im Namen eines „höheren Ziels“ außer Kraft. Verhandlungen und Vermittlungen würden deshalb verabscheut, weil die Menschen alles oder nichts wollten.
Burckhardt hätte die Dynamik, die die Cancel Culture antreibt, verstanden. Er hätte den Impuls verstanden, Gegner auszuschalten. Er hätte die Bedeutung einer kulturellen Identitätspolitik betont, die „alles oder nichts“ will. Dieses Ziel nicht zu deklarieren und keine explizite Rechtfertigung für das Ausschalten von Gegnern zu liefern, gehören zum Selbstverständnis der Gegner der Aufklärungskultur. Deshalb ziehen sie es vor, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Cancel Culture ein Mythos sei.
Anders als im deutschen Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, der mit dem Namen Bismarck verbunden ist, geht es heute um scheinbar sehr kleine, äußerlich unpolitische Kämpfe. Es geht dabei um Streitigkeiten über die Verwendung von Pronomen und oft darum, welche Wörter in der menschlichen Kommunikation genutzt oder vermieden werden sollten. Im Kulturkampf Bismarcks wussten alle Beteiligten, was auf dem Spiel stand. Ganz anders ist die Situation heute, wo oft schon die Existenz eines Konflikts um kulturelle Werte geleugnet wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir von den Befürwortern der Cancel Culture fordern, für ihr Verhalten Verantwortung zu übernehmen.
Dieser Beitrag ist zuerst in „Cancel Culture und Meinungsfreiheit: Über Zensur und Selbstzensur“ erschienen. Das Buch können Sie hier bestellen.
Frank Furedi ist emeritierter Professor der Soziologie an der Universität von Kent, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart.