20 Flüchtlinge rettete der griechische Unteroffizier Antonis Deligiorgis vor dem Ertrinken. Besitzer von Schiffen sind in privaten Initiativen unterwegs, um in Seenot geratene Flüchtlinge zu bergen. Über die Frage, was Europas Regierungen in der Flüchtlingsfrage tun, wird noch lange keine Klarheit herrschen. Spektakuläre Bilder und Berichte werden uns weiter begleiten. Das menschlich dramatische Geschehen und seine politischen Implikationen werden die Länder Europas zwingen zu klären, was Europa jenseits des Brüsseler Richtlinien-Mikromanagements sein soll.
„Die Reichen werden Todeszäune ziehen“
Die Tatsache, dass Europas Politiker seit Jahrzehnten wissen konnten, was auf sie zukommt, zeigt DER SPIEGEL, der 1982 Auszüge aus dem Buch des SPD-Kommunalexperten Martin Neuffer druckte, in dem dieser dafür plädierte, das Asylrecht „drastisch“ auf Europäer zu beschränken:
„Es ist eine Illusion zu meinen, die Bundesrepublik könne in dieser Lage ihre Grenzen für alle Asylanten der Erde weit offen halten. Sie könnte es schon nicht annähernd für die unübersehbare Masse der echten politischen Flüchtlinge. Sie wäre aber auch überhaupt nicht in der Lage, zwischen echten und den Fluten der unechten Asylsuchenden zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung verlöre von einem bestimmten Punkt an auch jeden Sinn.
Natürlich müssen wir helfen – sogar bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit und unter großen eigenen Opfern. Aber unser kleines Land kann nicht zur Zuflucht aller Bedrängten der Erde werden. Es bleibt uns keine andere Wahl, als das Asylrecht drastisch einzuschränken.
Damit sollte aber nicht so lange gewartet werden, bis die ersten Millionen schon hier sind und die Binnenprobleme bereits eine unlösbare Größenordnung erreicht haben. Wir müssen die Frage unverzüglich diskutieren und entscheiden. Eine Beschränkung des Asylrechts auf Bürger europäischer Länder könnte zum Beispiel als sachgerecht ins Auge gefasst werden.“
Libyens Diktator Gaddhafi verlangte 2010 von der EU fünf Milliarden Euro jährlich, damit sein Land die illegale Einwanderung stoppt. Unverblümt drohte er: „Wie werden die weißen, christlichen Europäer auf diese Massen von hungrigen, ungebildeten Afrikanern reagieren?“ Und: „Wissen wir, ob Europa ein fortgeschrittener, vereinter Kontinent bleiben oder ob es zerstört werden wird, wie es damals durch die Barbareninvasionen geschah?“
Der Flüchtlingsstrom nach Europa ist nichts, was die politisch Verantwortlichen unerwartet getroffen hätte. Vielmehr haben sie wie so oft, wenn es unangenehm wird, weggeschaut und die Länder alleine gelassen, die direkt mit dem Unangenehmen zu tun haben. Nun können sie nicht mehr ausweichen. Die täglichen Bilder und Berichte erhöhen den Druck zu handeln.
So ziemlich das dämlichste und menschenverachtendste ist die Forderung nach der Zerstörung der Schlepperboote. Die einzige Folge wäre, dass dann irgendwo Kähne aufgetrieben werden, die noch maroder sind. Der berechtigte Ruf nach dem Handeln afrikanischer Staaten ist unrealistisch, weil den Machthabern dort gerade recht ist, wenn ihre Leute weggehen. Soll schnell niemand mehr ertrinken, brauchen die Regierungen mit Marinestreitkräften bloß ihre Flotten ins Mittelmeer zu schicken. Dann gewinnen sie Zeit, um in den Herkunftsländern entschieden aktiv zu werden. Nur dort kann die Lage so verändert werden, dass weniger weg wollen. Natürlich greift da nichts schnell. Aber jeder Tag, an dem das nicht beginnt, ist verloren.
In den Herkunftsländern liegt der Schlüssel der Flüchtlingsfrage
DIE WELT zitiert die Antwort des bekannten afrikanischen Regisseurs Jean-Pierre Bekolo, ob er tatsächlich für eine Re-Kolonisierung Kameruns sei: „Nach 52 Jahren der Unabhängigkeit müssen wir uns eingestehen: Die Ideologien der Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit, die aus den nationalen Befreiungsbewegungen hervorgingen und die wir früher alle unterstützt haben, lassen sich mit den Realitäten der Globalisierung nicht vereinbaren. Wir befinden uns in einer Sackgasse. Es ist überdeutlich geworden, dass wir unser Ziel nicht erreichen werden, wenn wir darauf beharren, alles alleine zu tun. Das ist uns über den Kopf gewachsen.“
Auch wenn Bekolo damit die afrikanische Öffentlichkeit nur provozieren will, macht er deutlich, wie radikal auch Europa über neue Wege nachdenken muss, damit die Menschen aus ihren afrikanischen Heimaten nicht mehr fortwollen. Dass die Europäer das Kommando in ihren alten Kolonien wieder übernehmen, ist indiskutabel. Aber dass Entwicklungshilfe, wie wir sie kennen, die Flüchtlingsströme nicht verhindert hat, ist auch offenkundig. Ohne ganz neue Formen von Kooperation und Aktionen der UNO werden die kritischen Staaten Afrikas nicht zur Ruhe kommen und kann keine Ordnung einkehren. Auch mit China kann sich die EU zusammentun, das in Afrika intensiv tätig und allgemein akzeptiert ist.
Was ist Europa?
Wo die politisch-kulturellen Grenzen Europas liegen, ist eine Frage, die meist lautlos hinter den geopolitischen Interessen „des Westens“ zurücktritt. Wie sich Europa verändert, hängt nicht nur von Flüchtlingen aus Afrika und Asien ab, genauer gesagt von ihrer Zahl. Die Frage stellt sich auch auf der geografischen Halbinsel Europa. Ralf Dahrendorf war dezidiert der Meinung, dass Russland nicht dazu gehört. Aber wenn das auf das orthodoxe Russland zutrifft, wie ist es dann mit den anderen orthodoxen Ländern auf dem Balkan von Serbien bis Griechenland und dem Großteil der Ukraine? Europa ist noch recht weit davon entfernt, seine grundlegendsten Fragen geklärt zu haben. Wir in Westeuropa sind nur zu schnell bereit, darüber hinweg zu sehen. Denn wir gehören in jedem Fall dazu. Vielleicht sagen die Historiker später, die Flüchtlinge haben Europa zu sich selbst geführt.