Vor einigen Tagen gab ein prominenter englischer Jurist, Lord Sumption, bis 2018 Richter am obersten britischen Gericht, in Oxford die Pharos Lecture unter dem Titel „The New Roundheads: Politics and the Misuse of History“. Mit den „Roundheads“ (die Bezeichnung für die militanten Protestanten, die im englischen Bürgerkrieg gegen Karl I. kämpften) waren hier die neuen Puritaner gemeint, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Westens als eine einzige Bußübung inszenieren wollen. Vielleicht ist die Geschichtswissenschaft mittlerweile wirklich in einem so schlechten Zustand, dass es eines Juristen bedarf, um uns Historikern klarzumachen, worum es in unserem Fach geht.
Sumption wandte sich vor allem gegen den Versuch, jede Art von historischer Darstellung zu „dekolonialisieren“ und von vermeintlichen rassistischen Vorurteilen zu reinigen und das nicht nur in der akademischen Lehre und in Schulbüchern, sondern auch in Museen, die jetzt reihenweise ein Schauspiel der Selbstanklage wegen ihrer vermeintlich kolonialistischen Ursprünge aufführen. Ein Großteil der jüngeren Historiker, noch mehr aber derjenigen, deren Aufgabe es ist, als Lehrer, Kuratoren von Sammlungen oder in der Erwachsenenbildung geschichtliche Kenntnisse einem größeren Publikum zu vermitteln, sieht das jedoch ganz anders und das nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern zunehmend auch in Deutschland. Zunehmend sieht man in diesem Milieu Geschichte vor allem als ein Reservoir für moralische Belehrungen – die Geschichte soll ein Arsenal von Argumenten liefern, um die Guten von den Bösen in der Gegenwart ebenso wie in der Vergangenheit leichter unterscheiden zu können, und um der Sache des „Guten“ hier und heute zum Sieg zu verhelfen. Die Bösen sind dann aus dieser progressiven Sicht, wie sie auch einflussreiche akademische Historiker wie Jürgen Zimmerer in Hamburg in unserem Land vertreten, um nur ein Beispiel zu nennen, vor allem die Westler und Europäer, oder kollektiv der „weiße Mann“.
Unabhängig von der Frage, ob ein solcher Blick auf die Geschichte vereinbar ist mit der Evidenz der Quellen, zeigt sich hier methodisch ein Rückfall in ein fundamental vorwissenschaftliches Geschichtsverständnis. Vor dem Aufkommen einer im engeren Sinne des Wortes wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die trotz älterer Wurzeln etwa im Humanismus sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzte, war Geschichte, wenn sie nicht kirchliche Heilsgeschichte, Legitimation dynastischer Herrschafts- und Präeminenzansprüche oder Konstruktion nationaler Freiheits- und Überlegenheitsmythen war, etwas vereinfacht gesagt, oft vor allem eine Sammlung von Exempla, moralisch erbaulicher, aber auch abschreckender Beispiele guter und böser Taten oder Biographien.
Es war der Historismus des 19. Jahrhunderts, der seine Entstehung wiederum der Romantik und der Kritik am Universalismus der Aufklärung verdankte, der diese Art von Geschichtsschreibung verdrängte. Man ging nun viel stärker davon aus, dass jede historische Epoche, aber auch jede Kultur ihre Eigengesetzlichkeit, ihre eigenen Werte besaß, und dass diese Werte inkommensurabel seien. Einen historischen Fortschritt im eigentlichen Sinne des Wortes mochte es vielleicht noch auf dem Gebiet der Technik und Wissenschaft geben, aber eine grundsätzliche kulturelle oder gar moralische Überlegenheit konnte die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit nicht beanspruchen.
Natürlich barg dieses Verständnis von Geschichte unabhängig von der Gefahr eines absoluten Relativismus seine inneren Widersprüche, denn der Anspruch auf eine grundsätzliche Superiorität der Kultur Europas gegenüber anderen Kulturkreisen, die vermeintlich historisch erstarrt waren und keine wirkliche Geschichte oder zumindest kein entwickeltes Geschichtsbewusstsein besaßen, wurde oft trotzdem erhoben, eine Haltung, die aus heutiger Perspektive in ihrer naiven Zuspitzung zurecht kritisiert wird. Aber immerhin schuf der klassische Historismus ein Verständnis für die Fremdheit und Eigengesetzlichkeit vergangener historischer Epochen. Es wäre – um ein Beispiel zu geben – einfach anachronistisch, einem Herrscher des 16. Jahrhundert vorzuwerfen, dass er nicht für die klare Trennung von weltlicher und kirchlicher Ordnung eintrat, und daher nach unseren Vorstellungen intolerant war. Legen wir die moralischen oder politischen Maßstäbe der Gegenwart an die Vergangenheit an, dann versperren wir uns den Weg zu jedem tieferen Verständnis vergangener Kulturen. Diese Erkenntnis ist eigentlich eine bloße Banalität, aber dennoch droht sie zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist nicht die der moralischen Erziehung des Menschen
Beispiele dafür gibt es genug, man denke an die Versuche, große Denker wie David Hume oder Immanuel Kant auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen und zu canceln, weil ihre Schriften an irgendeiner Stelle Bemerkungen enthalten, die aus heutiger Sicht rassistisch klingen mögen. Was ist wirklich damit gewonnen, wenn wir uns dafür gratulieren, einer finsteren Vergangenheit moralisch überlegen zu sein und uns selbstgefälligen Empörungstiraden über unsere barbarischen Vorfahren hingeben? Es sei denn, es ginge in Wirklichkeit darum, die gegenwärtige westliche und europäische Kultur per se zu bekämpfen und wegen ihrer historischen Wurzeln als grundsätzlich verdammenswert hinzustellen. Wer das jedoch tut – und viele Vertreter der woken Linken tun genau das – sollte genau darüber nachdenken, wo eine solche Kampagne enden kann. Kann man wirklich noch überzeugend für universale Menschenrechte, die Emanzipation von Frauen oder individuelle Glaubensfreiheit eintreten, wenn man die Geschichte des Westens in Bausch und Bogen verwirft? Das erscheint kaum denkbar, weil die Genese dieser normativen Vorstellungen eben doch zu sehr mit der europäischen und westlichen Geschichte insgesamt verbunden ist, einschließlich der dunklen Aspekte dieser Geschichte, die es ohne Zweifel reichlich gibt.
Es muss aber überhaupt bezweifelt werden, dass es die Aufgabe der Geschichtswissenschaft oder auch nur einer breiter angelegten Vermittlung von Geschichte ist, moralisch belehrend zu wirken. Das Problem liegt hier freilich darin, dass mit Blick auf die Diktaturen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts die primäre Aufgabe einer didaktisch vermittelten Geschichte oft tatsächlich darin gesehen wird, heilsame Empörung zu erzeugen. Dieses Modell wird dann auf die europäische Kolonialgeschichte und andere Themen übertragen. Eine solche Haltung ist freilich selbst mit Blick auf das 20. Jahrhundert und seine Abgründe ein Irrweg, was natürlich nicht heißt, dass eine solche Empörung nicht gegebenenfalls angebracht wäre, aber sie bringt uns letzten Endes nicht weiter, sie macht uns weder zu besseren Menschen noch zu besseren Bürgern.
Wichtiger ist es z. B. analytisch zu fragen, wie aus einem Rechtsstaat, wie Deutschland es vor 1933 trotz allem war, in kürzester Zeit eine brutale Gewaltherrschaft werden konnte oder wie aus normalen Menschen in einer Diktatur Mörder wurden, und faktisch hat sich die Forschung auf solche Probleme ja auch konzentriert.
Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte setzt emotionale Distanz zum Gegenstand der Untersuchung voraus
Dafür ist freilich eine gewisse klinische Distanz des Historikers zum Gegenstand der Untersuchung – mag dieser noch so erschreckend sein – notwendig. Zu viel emotionale Anteilnahme schadet am Ende der wissenschaftlichen Analyse, so verständlich dieses emotionale Engagement auf den ersten Blick auch sein mag. Damit ist keine absolute Objektivität gemeint, die für den Historiker unmöglich ist, sein Blick bleibt immer standortgebunden und es gibt oft mehr als nur eine einzige historische Wahrheit, namentlich wenn Bewertungsfragen ins Spiel kommen, aber eben doch die Bereitschaft, Geschichtsschreibung nicht einfach als Teil einer politisch-moralischen, wenn nicht gar quasi religiösen Mission zu verstehen und die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft und ihrer Logik der quellenorientierten Sachlichkeit und des „audiatur et altera pars“ zu respektieren.
Was hier für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt, muss umso stärker für weiter zurückliegende Epochen gelten. So grauenhaft der transatlantische Sklavenhandel war, wir gewinnen wenig durch dramatische Inszenierungen moralischer Schuldbekenntnisse aus der Distanz von mehr als zwei Jahrhunderten, zumal der Gedanke einer über viele Generationen hin vererbten Kollektivschuld bestimmter ethnischer Gruppen – in diesem Fall der „Weißen“ – per se gefährlich ist, wie man aus der Geschichte nun in der Tat lernen kann, und wie das auch Lord Sumption in seinem Vortrag in Oxford betonte. Hier wird ja gerade jene wesenhafte, historisch kaum wandelbare Identität einer ethnischen Gruppe vorausgesetzt, deren Verteidigung man sonst dem „rechten“ Nationalismus so entschieden vorwirft, und das Individuum verliert gegenüber diesem Kollektiv jede moralische Eigenständigkeit – auch das passt an sich eher zu einem „völkischen“ Geschichtsbild, auch wenn hier die Bewertungen andere sind.
Aber offenbar gibt es auch viele akademische Historiker, die in einer Zeit, in der die Geisteswissenschaften sich eher im Niedergang befinden, sich von einer Popularisierung der Geschichte als Instrument zur moralischen Umerziehung und Reinigung einer „sündhaften“ Gesellschaft eine wirksame Legitimation ihres Faches und auch persönliche Karrierevorteile versprechen. Dass diese Rechnung freilich aufgeht, muss man bezweifeln. Solange es überhaupt noch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte gibt, wird sie mit der Konstruktion historischer Mythen – und die Erzählung vom durch und durch bösen „Westen“ ist natürlich auch ein solcher Mythos, ganz genauso wie manche sinnstiftenden Erzählungen des älteren Nationalismus -, immer in Konflikt geraten. Wenn man solche Mythen stabilisieren will, ist es dann doch besser, auf wirkliche wissenschaftliche Forschung ganz zu verzichten und reine Märchenerzähler zu besolden, die Propaganda verbreiten. Am Ende werden die wackeren Anti-Rassisten und Dekolonisierer unter den akademischen Historikern sich daher gerade dann endgültig überflüssig machen, wenn sie sich mit ihrer einseitigen und eigentlich antiwissenschaftlichen Geschichtsdeutung durchsetzen, aber das scheinen sie nicht zu erkennen.