Inzwischen dürften es weitaus mehr als tausend Fälle sein. Die zurückhaltendsten Meldungen sprechen von 400 Mädchen, die den diversen Vergiftungsattacken an mindestens 26 Schulen zum Opfer fielen. Laut dem persischen Dienst der BBC waren es bis Sonntag bereits 830 Fälle landesweit, ein Abgeordneter des iranischen Parlaments sprach von 1.200 Fällen nur in den stark betroffenen Städten Ghom und Borudscherd im Südwesten des Landes. Die deutsche Welt wiederum meldet 400 Fälle allein aus dem nordiranischen Ardabil.
Das Zahlenwirrwarr belegt einmal mehr, wie sehr das seit 40 Jahren theokratisch regierte Land sich abgeschottet hat. Erstaunlich ist, dass dennoch immer wieder private Videos hinausdringen. Auch über das verwendete Gift ist nichts Genaueres bekannt. Es wird anscheinend als Gas in die Schulräume eingebracht. Einige Mädchen berichten von einer kleinen Explosion, worauf ein unangenehmer Geruch wie von verbranntem Plastik die Luft gefüllt habe. Andere sprechen von Mandarinen-, Chlor- oder dem Geruch von verrottetem Fisch, kurz bevor sie erkrankten. Die Mädchen – nur von einer Jungenschule wird Ähnliches berichtet – werden mit Atemproblemen, Schwindel, Erbrechen und Erschöpfungszuständen in die Krankenhäuser eingeliefert. Auch von gelähmten Beinen ist die Rede.
Ein erstes Zentrum der Anschläge war die für Schiiten „heilige Stadt“ Ghom, 130 Kilometer südlich von Teheran. Schon im November waren dort erstmals Mädchen erkrankt. Einen Monat später gab es dort erneut Fälle. Später folgten Erkrankungen in Teheran, anscheinend dominieren aber andere Städte.
„Einige wollen die Schließung aller Schulen in Ghom“
Holly Dagres, Senior Fellow beim Washingtoner Atlantic Council, bringt die Lage vermutlich auf den Punkt: „Junge Frauen, die Mitglieder der iranischen Generation Z, haben den Protest im Iran angeführt. Jetzt werden sie absichtlich in Schulen in verschiedenen Städten vergiftet, um Rache zu nehmen und sie am Schulbesuch zu hindern.“ Mindestens ein Mädchen sei schon durch Gift gestorben.
Der Protest ergreift in der Folge auch die Eltern der Mädchen, die in Massen vor den Schulen auftauchen, wenn es wieder eine Serie von Vergiftungen gab. Die Vorgänge werden „ehrlos“ genannt. Auch die iranische Diktatur hat damit ein neues Adjektiv gewonnen: „kindermordend“.
Das genaue Motiv ebenso wie die Täter sind dabei unbekannt. Es bleiben aber wegen der Zahl der Fälle gewisse Zweifel, dass es nichtstaatliche Akteure sein könnten. Staatliche scheinen angesichts des Teheraner Überwachungsstaats wahrscheinlich. Am Mittwoch meldete die regimekonforme Nachrichtenagentur Fars, dass drei Verdächtige festgenommen worden seien. Doch der mit der Aufklärung der Giftanschläge betraute Innenminister Ahmad Vahidi dementierte.
Viele resümieren mehr oder weniger nüchtern, hier wolle offenbar jemand, dass die Mädchen nicht mehr zur Schule gehen. Da die Schulen im Iran geschlechtergetrennt sind, ist klar, dass man Mädchenschulen, die zuletzt oft als Zentren des Widerstands gegen das Regime galten, auf diese Weise schließen kann – abgesehen von der direkten Einschüchterung der Mädchen und ihrer Eltern. In manchen Schulen soll die Hälfte der Schülerinnen betroffen sein. Tatsächlich zitierte die staatliche Nachrichtenagentur IRNA den stellvertretenden Gesundheitsminister mit den erstaunlichen Worten: „Nach mehreren Vergiftungen von Schülern in Ghom kann festgestellt werden, dass einige Leute die Schließung aller Schulen, insbesondere der Mädchenschulen, wollen.“ Spricht der Minister hier von den konservativen Kräften innerhalb des radikal-islamischen Regierungslagers, die sich ja in der Klerikerstadt Ghom konzentrieren dürften? Darüber kann man angesichts der fast hermetischen Abschließung des Regimes nach außen nur mutmaßen.
Schulmädchen als Opfer eines Machtkampfes
Immerhin, ein Virus oder eine Mikrobe sollen nicht schuld sein, so ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Alireza Monadi, Abgeordneter mit Sitz im Bildungsausschuss, sagte: „Der Wille des Teufels, Mädchen an der Bildung zu hindern, ist eine ernste Gefahr und eine sehr schlechte Nachricht. Wir müssen die Wurzeln des Geschehens finden.“ Laut Monadi handelt es sich um ein stickstoffhaltiges Gas.
Daneben wurde auch die Täterschaft von „inneren Extremisten“ ins Gespräch gebracht, die die Islamische Republik angeblich durch ein Kalifat oder Emirat im Stil der Taliban ersetzen wollen. Andere verglichen die Anschläge mit denen von Boko Haram. Um zwei Ecken gedacht, wie es bei verdeckten Operationen manchmal nötig ist, würde auch das Sinn ergeben. Auch ein Agent provocateur mit anderen Absichten kann nie ausgeschlossen werden. Die Fars-Agentur glaubt, die Giftanschläge beruhten auf einer Verschwörung von Oppositionsgruppen, die die „stille Mehrheit“ der regimetreuen Iraner zum Widerstand provozieren wollen.
Eher auf der Hand liegt die staatliche Unterdrückung des Protests gegen die Sittenpolizei und allgemeine Unfreiheit in der Islamischen Republik Iran. Für die in den USA lebende Freiheitsaktivistin Masih Alinejad liegt die Antwort nahe: Die Mullahs hätten „Angst vor kleinen Mädchen“. In jedem Fall, so eine betroffene Mutter, seien die Kinder nun „die neuen Opfer dieses schmutzigen Machtkampfes“.