Was war das für ein Gefühl, als wir als Schüler den ersten Taschenrechner in der Hand hielten. Endlich waren stupide Grundrechenaufgaben Vergangenheit: kein Herumquälen mehr mit der Multiplikation oder gar Division mehrstelliger Zahlen oder der stumpfsinnigen Ausführung von Algorithmen auf Papier, um Zahlen nach dem Wunsch der Lehrer miteinander zu verknüpfen.
Und das Beste am Taschenrechner: Die Lehrer kannten den Trick noch nicht. Sie gaben immer noch die gleiche Menge unsinniger Aufgaben auf, nur waren die schnell erledigt, und wir waren wieder frei für Schneeballschlachten und Fußballspiele. Natürlich erfuhren die Lehrer irgendwann von unsrer Geheimwaffe und erlagen dem gleichen Reflex, dem die Hüter der Kulturtechniken immer verfallen, wenn etwas Neues auftaucht: Verrat am althergebrachten Wissen! Schummelei! Verbieten!
Wo kommen wir denn da hin, wenn die Schüler die Dinge schneller und einfacher erledigen können, als wir es gewohnt sind? Was, wenn kein Taschenrechner zur Hand ist? Und wenn dann das Leben davon abhängt, dass wir schriftlich 3458 mit 8302 multiplizieren können? Was dann?
Die Deutschlehrer lachten sich ins Fäustchen. Die wussten ja schon immer, dass die Kollegen aus Mathe und Naturwissenschaften nur triviale Aufgaben stellen können. Zahlen – pah! Nur die Sprache ist echt und wahr. Und die wird niemals durch diese komischen Rechenapparate erledigt werden können.
Niemals! Das sagten auch die Linguistikprofessoren. Aber die Mathe-Nerds wollten diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen. Dieses Geplapper der Kollegen aus den Geisteswissenschaften konnte doch nicht so schwer sein. Da stecken doch einfache Bildungsgesetze dahinter, die man genauso konstruieren kann wie die Multiplikation im Taschenrechner.
Und so bauten die einen eine Theorie der Generativen Grammatik, mit der sie die eloquenten Sätze ihrer Kollegen der Geisteswissenschaften auf einfache Regeln zurückführen konnten. Und die anderen reduzierten derweil die Funktionsweise des Gehirns auf ebenso einfache Regeln und bildeten sie als Algorithmus nach. Und eine dritte Gruppe von Nerds baute immer größere Rechner, in denen sie sämtliche kulturellen Errungenschaften ihrer Kollegen sammelten.
Und das Beste: Die Deutschlehrer bekommen es erst allmählich mit. Und wenn, dann: Verrat! Verrat am althergebrachten Wissen! Schummeln! Verbieten! Was, wenn eines Tages unser Leben davon abhängt, dass wir die Stilmittel Thomas Manns eloquent darstellen können, und wenn dann kein Computer in der Nähe ist?
Aber der Geist ist aus der Flasche. Die Zeit ist vorbei, da wir die einzige intelligente Spezies auf diesem Planeten waren. GPT in der Version 3 gibt es schon seit etwa zwei Jahren, seit einigen Wochen steht es in einer Testphase uns allen zur Verfügung, und zwar mit einer Benutzeroberfläche, die auch den Geisteswissenschaftlern entgegenkommt: ein Chat. Wie eine WhatsApp-Verbindung zum Geist der Zukunft. Manchmal merkt man, dass die Anbindung zum aktuellen Internet nicht steht. Dann interpretiert die Software den FCB, für den Yann Sommer jetzt das Tor hütet, als FC Basel. Sei‘s drum.
Die Geisteswissenschaftslehrer sitzen jedenfalls mit der gleichen Gier im Gesicht vorm Computer wie seinerzeit die Nerds. Und streiten sich mit der künstlichen Intelligenz darüber, wer denn nun die Rose im „Namen der Rose“ ist und welche Gefühle der Kapitän aus der Kapitänsaufgabe der Mathelehrer zeigen darf. Mit länger werdenden Bartstoppeln und der destruktiven Faszination eines „League of Legends“-Spielers probieren sie aus, welche Metaphern, Analogien und Ellipsen der Geist aus der Flasche versteht und ob es auch ein Akrostichon bilden kann. Es kann:
Tiefgründiges Denken
Ist die Basis von Tichy
Charakterisiert durch Weisheit
Hat immer eine Lösung parat
Yoga des Verstandes ist es.
Die Leistung beim Erstellen des Akrostichons ist solide, jedoch besteht noch Verbesserungspotenzial in Bezug auf Ausdruck und Reimschema. Aber auch diese Bewertung schreibt der Geist aus der Flasche gleich selbst – Schummler aufseiten des Schülers wie des Lehrers gleichzeitig: „Strategische Heirat“ schlägt der Geist aus der GPT-Flasche als Beschreibung vor.
Keine Frage, wir stehen an einem Scheideweg. Nachdem die nächste und wohl auch letzte Bastion menschlicher Vorherrschaft des Geistes gestürmt ist, müssen wir uns entscheiden: Wollen wir weiter unsere Schwertkampfkunst verfeinern, während der Rest der Welt den Umgang mit Schusswaffen lernt? Oder wollen wir die neuen Waffen führen lernen? Ich habe mich für Letzteres entschieden und mit der künstlichen Intelligenz zusammen ein Buch geschrieben.
Das Ding
ChatGPT (Generative Pretrained Transformer) ist der Prototyp eines Chatbots, also eines textbasierten Dialogsystems als Benutzerschnittstelle, der auf maschinellem Lernen beruht. Den Chatbot entwickelte das US-amerikanische Unternehmen OpenAI, das ihn im November 2022 veröffentlichte. Zum Ausprobieren: https://beta.openai.com/playground.
Das Buch
Christian Rieck, Schummeln mit ChatGPT. Texte verfassen mit künstlicher Intelligenz für Schule, Uni und Beruf. YES, Softcover, 192 Seiten, 16,00,- €