Es sind nun 240 Jahre seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Marokko und Österreich-Ungarn. Es gab ein paar Unstimmigkeiten mit Kanonenbooten im 19. Jahrhundert, aber sonst gelten die Beziehungen als gut. Im Zweiten Weltkrieg wurde Österreich auch von Marokkanern in französischen Kolonial-Diensten befreit. Sei das, wie es will. Um dem Protokoll Genüge zu tun, stattet Bundeskanzler Karl Nehammer dem nordafrikanischen Land noch bis zum Mittwoch einen Besuch ab. Wen er aber mitnahm, das zeigt, wozu dieser Besuch wirklich dienen soll. Innenminister Gerhard Karner ist dabei und deutet auf gewisse Unstimmigkeiten zwischen den langjährigen Dialogpartnern hin: Die illegalen Einreisen von Marokkanern nach Österreich sind auf einem Höchststand angekommen.
Die Marokkaner machen derzeit also ein knappes Drittel der Asylbewerber in Österreich aus, und das ist gleich aus zwei Gründen erstaunlich: Zum einen gibt es keine erkennbare politische oder kriegerische Bedrohungslage in dem Maghreb-Land, zum anderen liegen zwischen Marokko und Österreich sicher ein halbes Dutzend sichere Länder, und in jedem einzelnen könnte und müsste ein Marokkaner seinen Asylantrag stellen, wenn sein Asylwunsch denn als rechtens und legitim gelten soll.
Dass es den „flüchtenden“ Marokkanern um eine wirtschaftliche Verbesserung geht, ist indes klar. Ebenso klar dürfte sein, dass sie in den letzten Monaten vermehrt auf die Balkanroute auswichen, weil ihnen die Mittelmeerüberquerung zu riskant oder zu unbequem war. Das Eintrittsportal bei dieser Balkanfahrt bildet übrigens die Türkei, die für Marokkaner ohne Visum zu bereisen ist. Und natürlich kann Ankara jede Visumspolitik betreiben, die ihm gefällt – obwohl man Serbien unlängst nicht mit Ähnlichem gewähren ließ –, aber die EU müsste zumindest eine konsequente Antwort darauf finden.
Tatsächlich hatte Wien zuletzt mit Indien ein Rücknahmeabkommen für abgelehnte Asylbewerber geschlossen, das auch erleichterte Einreise- und Arbeitsmöglichkeiten für legale Emigranten aus Indien vorsieht. Ein ähnliches Abkommen mit Rabat ist dabei laut der Kleinen Zeitung noch keineswegs bestätigt. Aber in Wien scheint man an so etwas mehr als nur zu denken.
Wirtschaftszusammenarbeit statt illegaler Migration am Mittelmeer
Statt Einreisezusagen wie in Neu-Delhi könnte Nehammer in Rabat etwas anderes anbieten. So will er ein „Nearshoring“-Projekt besuchen. Der Begriff bedeutet, dass man versucht, die Zulieferer europäischer Betriebe in der Nähe des Kontinents anzusiedeln – also Nordafrika statt Ostasien. Das dürfte bisher auch eine Frage des Bildungsstandes gewesen sein. Diese Fragen werden ja inzwischen etwas nivelliert. Andere Realitäten sind wirkmächtiger geworden. „Nähe“ wird zum Wert an sich in einer Welt zunehmender Instabilität. Daneben soll es auch um energiepolitische Projekte gehen, um erneuerbare Energien und „grünen Wasserstoff“, die Rabat schon ab 2030 nach Großbritannien exportieren will. Ist dieser Weg friedlicher Vernetzung der richtige, um den illegalen Bootsverkehr am Mittelmeer auszubremsen?
Der sei auch „höchst notwendig, denn nur, wenn Europa seine Grenzen effektiv schützen kann, werden wir dauerhaft große Migrationsströme eindämmen können“. Daneben hält Nehammer auch an seinem Veto gegen die Erweiterung des Schengen-Raums um Bulgarien und Rumänien fest: „Solange das Schengen-System nicht funktioniert, bleibt unser Veto gegen eine Erweiterung aufrecht.“ Die festen Grenzkontrollen an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich zeigten, dass „dies derzeit immer noch nicht der Fall ist“. Das scheint ein hartes Kriterium zu sein, denn man kann sich kaum ausdenken, wann diese Grenzkontrollen nicht mehr notwendig sein sollen. Von einer Entspannung der Migrationslage an deutschen Grenzen kann keine Rede sein – im Gegenteil: Das Land strebt nun wirklich und handgreiflich einem zweiten „2015“ zu.
Wie weit trägt der „Sieg für Wien“?
Umso notwendiger werden gemeinsame Maßnahmen aller EU-27 gegen die illegale Migration. Im genannten Schlussdokument vom 9. Februar gaben sich die Unterzeichner – also alle angereisten Staats- und Regierungschefs einschließlich Olaf Scholz – „nach wie vor entschlossen, für eine wirksame Kontrolle [der EU-] Land- und Seeaußengrenzen zu sorgen“.
Dass die Online-Zeitschrift Politico das Dokument als „Vienna victory“, als Sieg für Wien, apostrophierte, bezog sich vor allem auf einige „starke“ Formulierungen zur Migration. So rufen die 27 Mitgliedsstaaten die Kommission dazu auf, „Maßnahmen von Mitgliedstaaten zu finanzieren, die unmittelbar zur Kontrolle der EU-Außengrenzen beitragen“, darunter „Pilotprojekte für das Grenzmanagement“. Daneben sollen auch „Schlüsselländer auf Transitrouten“ (vermutlich vor allem auf dem Balkan) dazu gebracht werden, die Grenzkontrollen zum EU-Raum zu verbessern.
Vor allem hatte Nehammer aber gefordert, dass endlich „Finanzmittel und Ressourcen der EU“ an die Mitgliedsstaaten gezahlt würden, um diese „beim Ausbau von Grenzschutzkapazitäten und -infrastruktur, Mitteln für die Überwachung, einschließlich der Luftüberwachung, und Ausrüstung zu unterstützen“. Außerdem soll es bald eine „Strategie für die integrierte europäische Grenzverwaltung“ geben, die ebenfalls von der Kommission zu beschließen ist. Auch eine Rückführungsrichtlinie soll entstehen.
Konsequent gegen Instrumentalisierung – doch auch gegen Einschleusungen?
Und natürlich ist man gegen die „Instrumentalisierung“ von Migranten zu politischen Zwecken, „insbesondere als Druckmittel oder als Teil destabilisierender hybrider Aktivitäten“ (Marke Türkei, Weißrussland, Marokko und andere). Auch die Schleuserkriminalität möchte man natürlich bekämpfen. Aber will man das wirklich? Das bleibt eine offene Frage, wenn man eine Änderung in letzter Minute ansieht, die sich ein oder mehrere Mitglieder ausbedungen haben muss. Die Änderung ist den „Schlussfolgerungen“ der EU-27 in einem offiziellen Dokument als Korrektur hinzugefügt. Ursprünglich hatte es im letzten Satz des Abschnitts zur Migration geheißen:
„Der Europäische Rat nimmt Kenntnis von der Absicht des Vorsitzes, auf der nächsten Tagung des Rates (Justiz und Inneres) die Umsetzung des Fahrplans von Dublin sowie das wirksame Tätigwerden der EU an den Außengrenzen, einschließlich der Frage von Maßnahmen privatrechtlicher Einrichtungen, zu erörtern.“ (Hervorhebung zur Verdeutlichung)
Nun sollte es davon abweichend und bindend heißen:
„Der Europäische Rat nimmt Kenntnis von der Absicht des Vorsitzes, auf der nächsten Tagung des Rates (Justiz und Inneres) die Umsetzung des Fahrplans von Dublin sowie das wirksame Tätigwerden der EU an den Außengrenzen, einschließlich der Angelegenheit betreffend Maßnahmen privatrechtlicher Einrichtungen, zu erörtern.“
NGO-Fahrten auf dem Mittelmeer wurden zur Sache der 27 erklärt
Man kann feststellen: Aus einer „Frage“ ist eine ziemliche Gewissheit geworden. Die „Maßnahmen privatrechtlicher Einrichtungen“ an den EU-Außengrenzen sind mit dieser bedeutungsvollen Korrektur zu einer „Angelegenheit“ aller 27 EU-Partner geworden. Interessant. Denn worum handelt es sich bei dem diffus klingenden Ausdruck wirklich? EU-Ratspräsident Charles Michel hat es am Ende der Tagung des Rats offen ausgesprochen und das Vorhaben an die zuständigen Minister überwiesen:
„Der Ministerrat wird sich insbesondere mit dem ‚Dublin-Fahrplan‘ und mit der Frage der Außengrenzen befassen, aber auch mit der Angelegenheit der privatrechtlichen Einrichtungen (das heißt den Schiffen, die Such- und Rettungseinsätze durchführen) – hier muss auf Ministerebene erörtert werden, wie man mit diesem Thema umgehen soll.“ (Hervorhebung wiederum zur Verdeutlichung)
Ja, es sind die NGO-Schiffe, für die mindestens ein Brüsseler Gipfelteilnehmer sich heldenhaft in die Brust warf. Wer könnte es gewesen sein? Sicher ist nur eins: Zu denen, die erörtern werden, wie „mit diesem Thema“ umgegangen wird, wird für Deutschland Innenministerin Nancy Faeser gehören. Und man hat eine Ahnung, mit welcher Ahnungslosigkeit sie mit dieser „Angelegenheit“, die keine offene „Frage“ mehr sein soll, umgehen wird. Im Koalitionsvertrag steht es bereits. Zu der Beihilfe bei der Einschleusung illegaler Migranten vor allem nach Italien über das zentrale Mittelmeer heißt es da:
„Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden. Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an und wollen mit mehr Ländern Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus weiterentwickeln. Wir streben eine faire Verantwortungsteilung zwischen den Anrainerstaaten des Mittelmeers bei der Seenotrettung an und wollen sicherstellen, dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden.“
Wo bleibt die Stimme der FDP für einen Stopp an den Außengrenzen?
Und noch einmal muss man nach der Rolle der FDP in dieser Regierungskoalition fragen, wo ein Christian Lindner mit Forderungen nach „mehr Konsequenz beim Aufenthaltsrecht“ (so das ZDF) hervortritt, den Landkreisen nicht mehr Geld zur Flüchtlingsunterbringung geben will, aber zur gleichen Zeit nicht wirksam für einen Stopp an den Grenzen der EU eintritt. Stattdessen haben sich alle etablierten Parteien, sogar die Union, an der staatlichen Förderung der Migrations-NGOs beteiligt. Die Inthronisierung dieser heimlichen Herrscher über die Migrationsrouten des Mittelmeeres ist der logische nächste Schritt.