Tichys Einblick
Zweierlei Maß

Prozesse gegen „Staatsfeinde“ und „Querdenker“ wie Ballweg ziehen sich hin

Geht es um Staatsfeinde, arbeiten Ermittlungsbehörden gründlich und lassen sich Zeit. Die mutmaßlichen Entführer Karl Lauterbachs sitzen seit zehn Monaten in U-Haft, der „Querdenker“ Michael Ballweg seit acht Monaten.

IMAGO/Arnulf Hettrich

Muhamed Remmo befindet sich auf freiem Fuß. Für den verurteilten Räuber gab es keinen Platz im Drogenentzug, also ist ihm der Maßregelvollzug nicht zuzumuten. Remmo hat einen Geldtransporter überfallen, ist zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wie die BZ berichtet, ist er nach seiner Entlassung in die Türkei ausgereist. Michael Ballweg sitzt seit acht Monaten in Untersuchungshaft. Er könnte ins Ausland fliehen, fürchten die Behörden. Zum Beispiel in die Türkei.

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Ballweg wird Betrug und Geldwäsche vorgeworfen. Bekannt ist der Dauer-U-Häftling als Gründer der „Querdenker“-Bewegung. Er hat Corona-Maßnahmen kritisiert. Also nicht erst in jüngster Zeit wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) oder Justizminister Marco Buschmann (FDP). Sondern 2020, als solche Kritik noch als ein Handeln wider die Staatsräson galt. In U-Haft sitzt er, weil er Spendengelder unterschlagen haben soll. Seit acht Monaten. Wie die Allgäuer Zeitung berichtet, hat sein Anwalt nun Verfassungsbeschwerde eingelegt. Fluchtgefahr bestehe, weil er sein Haus verkauft habe, argumentieren die Behörden. Das lasse auf ein Absetzen ins Ausland schließen. Etwa in die Türkei, wohin Muhamed Remmo durfte. Er habe sein Haus verkauft, weil er sich von seiner Frau getrennt habe, hält Ballweg dagegen.

Ballweg sitzt in Stuttgart-Stammheim. Einem symbolträchtigen Ort. Die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe starben in diesem Gefängnis. Vorher bereiteten sie die Morde des Deutschen Herbstes mit vor. Etwa den am Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Auch fand in Stammheim ein aufwändiger Prozess gegen die RAF-Mörder statt. Auf den wartet Ballweg noch. Er sitzt bisher nur in Untersuchungshaft. Seit acht Monaten. Wegen des Vorwurfs des Betrugs.

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Er ist nicht der Einzige, der auf einen Prozess wartet. Auch die vier Entführer Lauterbachs warten. Also die verhinderten Entführer. Drei Monate nach dem Beginn ihrer Planungen wurden sie verhaftet. Recht früh bewegte sich der Staatsschutz in ihren Reihen. Vorgeworfen wird ihnen nicht nur, Lauterbachs Entführung geplant zu haben. Sie sollen auch den Mord an seinen Sicherheitskräften in Kauf genommen und einen flächendeckenden Stromausfall vorbereitet haben. Diesen wiederum wollten die vier Verhafteten nutzen, um einen Staatsstreich durchzuführen. Wären sie nicht gescheitert, hätten sie zu den schlimmsten Verbrechern der bundesdeutschen Geschichte gehört. Ende Januar hat die Bundesanwaltschaft Anklage gegen sie erhoben. Nach neun Monaten U-Haft.

Die Antwort auf die Frage, was aus den 25 Reichsbürgern wird, die bei einer großen Razzia am 7. Dezember verhaftet wurden, kann sich vor dem Hintergrund noch länger hinziehen. Da hilft auch eine Anfrage wenig, welche die AfD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung gestellt hat. Ob und wann die Bundesanwaltschaft eine Anklage erhebe, wisse die Bundesregierung nicht. Die Antwort kommt vom Innenministerium. Deren Chefin Nancy Faeser (SPD) saß am Abend der Razzia bei Sandra Maischberger. Demnach wusste die Innenministerin da auch noch nicht, wann und ob die Bundesanwaltschaft Anzeige gegen die Verhafteten erhebt. Aber die politischen Folgen der Razzia kannte Faeser schon. Etwa, dass die Beweisschuld faktisch umgekehrt werden müsse, wenn der Staat politisch missliebige Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes rauswirft. Für einen solchen Entschluss braucht Faeser die Hintergründe der Verhaftungen gar nicht so genau zu kennen.

Eine politische Wortgeschichte
Staatsfeind(lich)
Von der Razzia will Faesers Ministerium am 6. Dezember erfahren haben. Also einen Tag vor der Razzia und ihrem Auftritt bei Sandra Maischberger. Mit Journalisten habe das Ministerium vorab keine Informationen „geteilt“, heißt es in der Antwort, Drucksache 20/5699. Wie viele der 25 Verhafteten vorbestraft sind, wollte das Ministerium nicht beantworten. Das „Resozialisierungsinteresse“ gegenüber den Verhafteten solle nicht gefährdet werden. Also erfährt die Öffentlichkeit vorerst nicht, ob einer von ihnen vorab in der Türkei auf einen Kokainentzugsplatz warten muss. Nur dass 24 der 25 Verhafteten derzeit in U-Haft sitzen. Der 25. befinde sich in Italien, in Auslieferungshaft. Seit fast drei Monaten. Wenn es um Staatsfeinde geht, arbeiten die Ermittlungsbehörden gründlich und lassen sich Zeit.

Immerhin waren diese Staatsfeinde bewaffnet. „97 mutmaßliche Schusswaffen“ seien bei der Razzia gefunden worden, heißt es in der Antwort der Regierung. „Davon sind 55 Schusswaffen einem gewerblichen Waffenhändler zuzuordnen“ – stellen also sein legales Sortiment dar. Und auch sonst weiß das Innenministerium nur wenig zu den „mutmaßlichen Schusswaffen“: „Abschließende Informationen der örtlich und sachlich zuständigen Behörden im Sinne der Anfrage liegen bislang nicht vor.“ Nur dass sie die Beweislast für missliebige Beamte und Angestellte faktisch umkehren will, das weiß Faeser. Aber das wusste sie mutmaßlich schon, als sie zu Sandra Maischberger eingeladen wurde. Zum Tag der Razzia. Von der sie später erfahren haben will als von Maischbergers Einladung. Und mutmaßlich weiß Faeser auch, dass Michael Ballweg seit acht Monaten in U-Haft sitzt. Aber das mag in ihren Augen kein Problem darstellen.

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