Die Twitter-Files begeben sich in die nächste Runde. Anstatt dabei aber zwingenderweise mit Aufsehen erregenden Neuigkeiten zu trumpfen, entsteht aufgrund der (ausbleibenden) Reaktionen aus dem Mainstream eine übergeordnete Betrachtungsebene, auf der die Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs durch Konzerne, Politik und Regierungsbehörden abseits der Einordnung in ein Rechts/Links-Spektrum betrachtet wird und die manipulative Ausgrenzung unliebsamer Stimmen durch einen überbordenden Verwaltungsapparat zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird.
Denn während die Twitter-Files ausführlichst die Einflussnahme „aus jeder Ecke der Regierung“ dokumentierten, wobei sowohl Rechte und Linke von Regierungsbehörden für „fiktive Russen“ gehalten wurden, herrschte im Mainstream-Blätterwald auffälliges Schweigen. Zumindest bis zu den Kongressanhörungen vierer Ex-Twitter-Mitarbeiter. Als eine der verhörten Ex-Twitteranten, Anika Navaroli, zu Protokoll gab, dass Mitarbeiter des Weißen Hauses 2019 Twitter dazu aufgefordert hatten, einen beleidigenden Tweet des Models Chrissy Teigen gegen den damals amtierenden Präsidenten Donald Trump zu löschen – eine Aufforderung, der Twitter im Übrigen nicht nachkam –, war das Medienecho so groß wie noch nie seit Anbeginn der Twitter-Files-Veröffentlichungen.
Mit zweierlei Maß
Diese Diskrepanz veranlasste Taibbi, „ein Paar laute Datenpunkte“ einzuführen, um zu sehen, ob die Presse diese vergleichbaren Fälle ebenfalls aufgreifen würde. Denn, so argumentiert Taibbi, wenn die Aufregung des Präsidenten über eine Person nachrichtenwürdig ist, dann müsste die Liste des unabhängigen US-Senators Angus King, der Twitter mehr als 300 Accounts aus seiner Wählerschaft als „verdächtig“ meldete, ebenfalls die Nachrichten sprengen. Die Liste von King bezichtigt dabei die missliebigen Twitter-Accounts verschiedenster verdächtiger Verhaltensweisen. Einem wird vorgeworfen, sich auf den Besuch des republikanischen Senators Rand Paul zu freuen, ein anderer wird als Bot bezeichnet, da er „im Schnitt 20 Tweets pro Tag“ absetzt, wieder einem anderen wird vorgeworfen, dass Kings republikanischer Rivale Eric Brakey ihm folgt und zu guter Letzt wird einem Twitter-Nutzer sogar vorgeworfen, er „erwähne Immigration“.
Um den Vorwurf der Parteinahme abzuwenden, beschränkt sich Taibbi aber nicht auf demokratische Politiker, oder jene, die mit ihnen eine Fraktion bilden, sondern hat auch ein Gegenbeispiel aus der republikanischen Partei zur Hand. So wandte sich der republikanische Mitarbeiter des Außenministeriums Mark Lenzi im April 2020 mit der Aufforderung an Twitter, 14 Accounts, die er als „von Russland kontrolliert“ bezeichnete, „zu untersuchen und zu löschen“. Lenzi kündigte weitere Listen von Twitter-Accounts in den kommenden Wochen an und bat, aufgrund der „empfindlichen Art meiner Tätigkeit“, in weiteren Diskussionen zu diesem Thema anonym zu bleiben.
Taibbi erinnerte auch an einen besonders dreisten Versuch der Einflussnahme auf Twitter durch den demokratischen Repräsentanten Adam Schiff, der forsch die Verbannung eines unliebsamen Reporters forderte, der unvorteilhaft über einen Mitarbeiter von Schiff berichtet hatte. Nicht nur sollte der Reporter verbannt werden, „alle Suchresultate“ in Bezug auf den betreffenden Mitarbeiter sollten von Twitter entfernt werden. Dabei ist anzumerken, dass aus den von Taibbi veröffentlichten Daten hervorgeht, dass diese Forderungen auch den Twitter-Mitarbeitern zu weit gingen.
Von einer Geschichte über Twitter zu Einblicken in die Zensurbürokratie
Taibbis Experiment stellt die Frage, ob der Mainstream, nachdem die Geschichte rund um Trumps Forderung nach der Löschung des Tweets von Chrissy Teigen Schlagzeilen machte, die vergleichsweise viel gravierenderen Forderungen von King, Lenzi oder Schiff thematisieren würde. Die Antwort dürfte die meisten Leser nicht überraschen, dennoch liegt darin wieder einmal der entlarvende Wert der Twitter-Files. Was zuvor zwar „offensichtlich“ schien, kann nun faktisch und exemplarisch dargelegt werden. Die medialen Ablenkungsmanöver führen nach Taibbis Einschätzung aber dazu, dass vor allem die Zielgruppe der Wähler der Demokraten ihre Aufmerksamkeit auf sinnlose Lagerkämpfe richtet, anstatt sich auf die größeren Zusammenhänge zu konzentrieren.
Diese bestehen nämlich in der Erkenntnis, dass die Twitter-Files nicht so sehr die Korruption der Twitter-Mitarbeiter offenlegen, sondern vielmehr „eine ausufernde Zensurbürokratie auf Bundesebene, die sich weder gegen die Linke noch gegen die Rechte an sich richtet, sondern gegen die gesamte Bevölkerung von Außenseitern, die systematisch als Bedrohung definiert werden“, so Taibbi.
Aus dieser Erkenntnis speist sich auch die Ankündigung, dass die Twitter-Files ab März dazu übergehen werden, die „größere Geschichte“ zu thematisieren, nämlich dass „die Amerikaner ihre antiterroristische Maschinerie mit verheerenden Folgen gegen sich selbst gerichtet haben“. Dabei dürften wenig bekannte Organisationen wie das Global Engagement Center (GEC) eine entscheidende Rolle gespielt haben.
Aus europäischer bzw. deutscher Sicht kann man diese Entwicklung nur als begrüßenswerte Zuspitzung des Diskurses erfahren, da die anstehenden Regularien der EU in Hinblick auf die Kontrolle des digitalen Raumes mittels des Digital Service Act (DSA) und anderen Verordnungen genau damit zu tun haben, wenngleich sie in den bisherigen Veröffentlichungen der Twitter-Files, die einen Schwerpunkt auf die amerikanische Situation legten, nur selten Widerhall fanden.
Was Taibbi als „ausufernde Zensurbürokratie“ beschreibt, ist wohl eine adäquate Beschreibung des stetig wachsenden Apparats der EU und ihrer Handlanger auf nationaler Ebene. Schon bald wird die Entscheidung gefällt werden müssen, ob das neue Twitter unter Elon Musk sich den Regelungen dieser europäischen Bürokratie unterwerfen wird. Von Seiten des europäischen Mainstreams wird diese Debatte wohl nicht thematisiert werden, umso wichtiger werden die kommenden Twitter-File-Veröffentlichungen sein.
Im Sinne der verbliebenen Meinungsfreiheit im digitalen Raum muss man hoffen, dass diese Veröffentlichungen auch konkrete Rückschlüsse und Bezugnahme auf die europäischen Verhältnisse zulässt, bevor die EU Tatsachen schafft und uns womöglich ab 2024, wenn der DSA in Kraft tritt, vom Zugang zu diesen Enthüllungen gänzlich abschneidet. Stand heute wäre davon nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit auszugehen.