Wer schon einmal durch die USA gefahren ist, kennt sie: Die scheinbar niemals enden wollenden Güterzüge, die Fracht von einem Ende des Landes ans andere transportieren. Am 3. Februar entgleiste in East Palestine, Ohio, so ein Güterzug der Norfolk Southern Bahnlinie mit insgesamt 150 Waggons. 50 der Wagen schoben sich wie eine Ziehharmonika zusammen, gerieten in Brand.
„The Place you want to be“ lautet das offizielle Motto der kleinen Gemeinde East Palestine. 5000 Menschen leben hier, an der Grenze zwischen Ohio und Pennsylvania. Junge Familien mit kleinen Kindern, die unbeschwert draußen spielen, Arbeiter und Selbstständige, Rentner, die plaudernd vor der Haustür sitzen. Man kennt sich, man trifft sich im lokalen Diner oder Café. Seitdem der Güterzug der Norfolk Southern Bahnlinie aber Anfang Februar direkt vor ihrer Haustür entgleiste, ist in East Palestine nichts mehr, wie es mal war.
Am Montag den 6. Februar erfolgte dann eine „kontrollierte Freisetzung“ der gefährlichen Chemikalientanks. Sprich – Einsatzkräfte fackelten den Inhalt der Gefahrgutwaggons kurzerhand kontrolliert ab. Die Rauchwolken, die dabei entstanden konnte man in beiden Bundesstaaten auf große Entfernung sehen. Und sie waren lebensgefährlich. Governor Mike DeWine weist in seinen Evakuierungsanordnungen explizit darauf hin.
„Laut Norfolk Southern Railroad werden bei dem kontrollierten Freisetzungsprozess Dämpfe in die Luft freigesetzt, die beim Einatmen tödlich sein können. Basierend auf den aktuellen Wettermustern und dem erwarteten Ausstoß von Rauch und Dämpfen ist jeder, der in der rot markierten Gegend bleibt, einer ernsten Todesgefahr ausgesetzt. Jeder, der sich im gelb markierten Bereich befindet, hat ein hohes Risiko für schwere Verletzungen, einschließlich Hautverbrennungen und schweren Lungenschäden“.
Die Evakuierungsanordnung wurde bereits zwei Tage später, am Mittwoch den 8. Februar, aufgehoben und es hieß: Alles okay, es besteht keine Gefahr mehr für Leib und Leben. Die Umweltschutzbehörde EPA habe die Luft im Außenbereich und einem Großteil der Häuser gemessen, alles sei im grünen Bereich. Stimmt das wirklich?
Warum erklärte Ohios EPA Sprecher James Lee dann, dass es schwierig sei, die Menge an ausgetretenen giftigen Gasen zu bestimmen und dass die Böden rund um den Ort durch den Vorfall für Jahrzehnte verseucht sein könnten. Warum spricht EPA von kontaminierten Böden, die beim Wiederaufbau der Eisenbahnlinie versiegelt werden müssen – unter anderem die Grube, die für das gezielte Verbrennen des Vinylchlorid ausgegraben wurde.
Dazu kommt eine zermürbende Salamitaktik. Aus den zwei Chemikalien, von denen anfangs die Rede war, sind mittlerweile fünf geworden, wie selbst die Norfolk Southern Railway Company in ihrem FAQ Sheet zugibt. 1. Vinylchlorid. 2. Ethylenglycol-Monobutylether. 3. Ethylhexylacrylat. 4. Isobutylen und 5. Butylacrylat. Allesamt gesundheitsgefährdend, teilweise hochgradig krebserregend.
Man behauptet, Trinkwasser und Atemluft seien ungefährlich und keinerlei Gesundheitsfolgen zu erwarten. Nicht einmal die Filter in den Öfen oder Klimaanlagen müssten gewechselt werden.
Lenny Glavan, Inhaber des lokalen Tattoo-Shops, bringt es bei Fox News auf den Punkt: „If it is so safe, why does it hurt?“ Man wundert sich auch, warum Verkehrsminister Pete Buttigieg sich bisher nicht im Katastrophengebiet hat blicken lassen. Hat er Angst?
Die Bewohner in East Palestine hoffen, dass die Salami schon komplett aufgeschnitten auf dem Tisch liegt. Aber sie fürchten, dass weiterhin neue Happen serviert werden.
Mit dieser Befürchtung sind sie nicht allein. Der nahe gelegene Ohio River ist die Trinkwasserquelle für über drei Millionen Menschen. Der Wasserversorger West Virginia American Water erklärte, dass man bisher zwar keine Veränderung des Rohwassers an der Aufnahmestelle festgestellt habe, trotzdem den Wasseraufbereitungsprozess vorsichtshalber noch stärker überwachen will. Außerdem wird ein zweiter Einlass am Guyandotte River installiert, falls es notwendig wird, auf eine alternative Wasserquelle umzusteigen.
Das 55-Milliarden-Dollar-Eisenbahnunternehmen Norfolk Southern Railway hat bereits Schadenersatz angeboten. „Stolze“ 25.000 Dollar, die an das Amerikanische Rote Kreuz gespendet wurden, um bei den Hilfsmaßnahmen zu unterstützen. Hallelujah, möchte man dankend rufen. Ganz so einfach werden sie in Amerika aber wohl nicht davonkommen. Zwei Einwohner haben bereits Bundesklage eingereicht und fordern Norfolk Southern auf, für medizinische Screenings und damit verbundene Pflege für jeden zu bezahlen, der in einem Umkreis von 30 Meilen um die Unglücksstelle lebt. Damit soll ermittelt werden, ob Bewohner unter Spätfolgen durch die Freisetzung der giftigen Substanzen leiden.
Erin Brockovich, die dafür verantwortlich war, dass die Pacific Gas and Electric (PG&E) die Rekordsumme von 333 Millionen US-Dollar für Umweltvergehen zahlen musste, riet den Gemeindemitgliedern von East Palestine zu dokumentieren, was mit ihrer Gesundheit passiert und Videos von sterbenden Wildtieren oder toten Fischen in den Flussarmen aufzunehmen. Auch die Umweltaktivistin befürchtet, dass die Wasserqualität nicht nur im Ohio River gelitten hat.