In den Zeitungen, zum Beispiel in der FAZ, lesen wir soeben als Überschrift: „Corona hat vielen ein besseres Abitur beschert“. Diese Aussage ist halb richtig und halb unvollständig. Komplett wäre die Überschrift gewesen: „Corona hat den Trend zu immer besseren Noten bei immer schwächerer Leistung weiter beschleunigt.“ Denn eine Inflation von immer mehr guten und an Bestnoten haben wir seit Jahren.
Aktuelle Beispiele zu den Corona-Jahren 2021 und 2022 belegen dies:
- Hessen: Dort lag der Anteil der Abiture mit 1,0 im Jahr 2013 noch bei 1,6 Prozent, in den beiden Corona-Jahren 2021 und 2022 stieg er auf 4,2 und 4,5 Prozent.
- Sachsen: Dort vervielfachte sich der vormals relativ geringe Anteil der 1,0-Abiture von 1,2 Prozent vom Jahr 2013 auf 4,2 Prozent im Jahr 2022.
- Deutschlandweit insgesamt lag der Anteil der Abiture mit 1,0 im Jahr 2013 bei 1,4 Prozent, im Jahre 2022 waren es 3,4 Prozent.
Was ist in den Corona-Jahren der noch zunächst nachvollziehbare Grund? Es sollte für Schüler, die wegen der Schulschließungen viel Unterrichtsausfall hatten, eine Art Nachteilsausgleich sein. Die Ansprüche wurden gesenkt, die Maßstäbe für die Notengebung ebenfalls.
Recht und schön, gut gemeint, aber nicht durchdacht. Denn diese Art von Gefälligkeits- und Erleichterungspädagogik wird man – Motto: Gleiches Recht für alle! – nach Corona nicht mehr einfangen. Außerdem wurde in den Corona-Jahren fortgesetzt, was es bereits vor Corona gab.
Corona also hin oder her: Der Abbau von Anforderungen wurde – von Bundesland zu Bundesland in unterschiedlichem Maße praktiziert – möglich durch folgende Maßnahmen, mit denen die Abiturpolitik bereits vor Corona begonnen hatte:
- Kürzung der Stoffumfänge für die Abiturprüfung, zum Beispiel der Pflichtlektüren;
- mehr Auswahlmöglichkeiten der Prüflinge bei den gestellten Aufgaben:
- Verlängerung der Arbeitszeiten;
- Ersatz von schriftlichen Prüfungen durch mündliche Prüfungen, die erfahrungsgemäß immer ein bis zwei Notenstufen besser ausfallen;
- Einführung neuer Prüfungsformen, wie Projektprüfung und Präsentation, die zu Hause vorbereitet werden können;
- Liberalisierung der Bewertungsmaßstäbe;
- Verzicht auf eine Zweitkorrektur.
Folge: Arbeiten, die früher mit einer 4 bewertet wurden, gelangten in den Bereich der Noten 3 oder gar 2. Dabei hatten manche Bundesländer schon vor Corona Notenschnitte für das ganze Land von 2,1 bis 2,2. Ja, früher war 2,1 ein Spitzenabitur in vielen Schulen, jetzt ist es Durchschnitt. Oder: 40 und mehr Prozent eines Abiturjahresganges haben eine 1 vor der Kommanote. Nicht wenige Gymnasien rühmen sich bei ihren Abiturfeiern, dass 60 Prozent eine 1 vor der Kommanote haben.
Folge unter anderem bei manchen Abiturienten: Heulkrämpfe der „Generation Schneeflocke“, wenn es „nur“ eine 2 ist. Bei einer Prüfung scheitern, „durchfallen“ – das gibt es fast nicht mehr. Wie es ja auch kaum noch Sitzenbleiber in den früheren Jahrgangsstufen gibt und selbst an Gymnasien alle Schüler durchgeschoben werden, bis sie dann auch noch über die Abiturhürde gehievt werden müssen.
Was verbirgt sich hinter solcher Abiturpolitik? Es steckt dahinter ausgesprochen oder unausgesprochen ein Egalitarismus, der allen Heranwachsenden das Abitur geben möchte. Es verbirgt sich dahinter ein Kniefall vor ehrgeizigen Eltern. Und es steckt dahinter ein politischer Gefälligkeitspopulismus.
Allerdings setzt sich die Noteninflation auch an den Hochschulen in einigen Bereichen fort – vor allem in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie in den immer neuen hochideologisierten Glasperlenfächern von „Gender“, „diversity“, „Intersektionalität“, Postkolonialstudien, „Humanities“ … Und auch die Zahl der Promotionen, jährlich rund 30.000, sehr viele auch mit summa oder magna cum laude, nimmt entsprechend zu.
Masse statt Klasse ist angesagt – im gesamten Bildungswesen. Und das in einer Zeit, in der man in Deutschland über einen Fachkräftemangel klagt. Tatsächlich aber lügt man sich in die Tasche, denn am Ende des Abiturwahns steht nichts anderes als ein nach unten nivelliertes, pseudoakademisiertes Land.