Der Komponist Johann Sebastian Bach hatte mit zwei Ehefrauen insgesamt zwanzig Kinder – die Hälfte starb vor dem dritten Lebensjahr. In die Musikgeschichte eingegangen sind vor allem die vier Bachsöhne, die ihrem Vater als Komponisten nachfolgten. Weniger bekannt ist, dass Bach auch eine Tochter mit Namen Dorothea hatte, die nach des Vaters Notizen im Familienensemble „nicht schlimm einschläget“, und aus einem seiner Briefe wissen wir, dass sie sich „beim Singen nicht allzu schlecht“ ausnimmt.
Angela Steidele erzählt in diesem wahrlich amüsanten Buch die – vor allem fiktive – Freundschaft zwischen Dorothea Bach und Luise Gottsched, der „Gottschedin“, die als Lichtgestalt der weiblichen Geistes- und Gelehrtengeschichte dieser Epoche gilt. Die beiden Frauen lernen sich im Roman 1734 zur Feier anlässlich der Aufführung der „Kaffeekantate“ im „Zimmermannischen Caffe-Hauß“ kennen.
Johann Sebastian Bach wurde 1723 zum Thomaskantor in Leipzig berufen, suchte nach einem Librettisten für ein angelegtes Weihnachtsoratorium und verpflichtet die Gottschedin. Wie schön ist es und wie vergnüglich, den beiden Frauenzimmern bei den ersten tastenden Begegnungen zuzuschauen, ihren Exkursen zu folgen und die Wertschätzung für die jeweils andere zu erspüren.
Eine lange Zeit der Freundschaft allerdings ist den beiden nicht vergönnt. Nach dem frühen Tod der Gottschedin (1762, mit 49 Jahren) und nach der Lektüre der posthum nachgetragenen Biografie vom Ehemann Johann Christoph Gottsched, dem Leipziger Literaturgelehrten, entscheidet sich im Roman die mittlerweile 50-jährige Dorothea, die Geschichte der verehrten Freundin aus eigener Erinnerung zu verfassen. „Es ist so schwer, sich in diese Zeit zu versetzen“, klagt die „Jungfer Bachin“. Der verwitwete Ehemann, so ihr entrüsteter Vorwurf, habe „ja eigentlich nur sein eigenes Leben geschildert und nennt es das Leben seiner Frau.“
Jahre später ist es der einflussreiche Verleger Philipp Erasmus Reich, der sich nach der Lektüre fragt: „… ist das nun Geschichtsschreibung oder Roman?“ Und Verleger Bernhard Christoph Breitkopf gefällt sich in der Aussage: „Aber das ist ja alles so rückwärtsgewandt. Die vielen Leute, die keiner mehr kennt. Das passt doch nicht so recht in die heutige Zeit.“
„Ob ich meine Erinnerungen in Prosa, als Gedicht oder als Gespräch wiedergebe – ganz wahr werden sie nie sein, aber ganz falsch auch nicht.“ Angela Steidele macht sich auf sehr charmante Art einen Kunstgriff zu eigen, wenn sie die Biografin Bach so sprechen lässt, denn vor allem ist es doch ein Roman, der ein solch kunstvolles Zeitgemälde einer Epoche entwirft, die als „Aufklärung“ in die deutsche Geistesgeschichte eingehen soll.
Steidele selbst bezeichnet sie als „einen nie abgeschlossenen Prozess“ und meint, dass ihr Roman nicht zuletzt auch eine Erzählung des Heutigen ist. Entstanden ist ein pralles und vergnüglich zu lesendes Porträt des intellektuellen Sachsens, seiner damaligen geistigen Hochburg Leipzig und seiner diskussionsfreudigen, nahezu freigeistigen Salons. Neben der auch für unsere Zeit aktuellen, aber gänzlich unideologisch verhandelten Thematik der Gleichberechtigung ist „Aufklärung“ zugleich ein Musikroman, der zudem ein liebenswertes Bild des Familienvaters Bach zeichnet. „Wir wollen doch lieber nach vorne schauen, nicht wahr?“
Mit dieser rhetorischen Frage von Breitkopf lässt Angela Steidele, die sich als Biografin etlicher Frauenfiguren einen Namen gemacht hat, ihren Roman ausklingen – und ich bin versucht zu sagen, dass wir doch lieber wieder etwas mehr zurückschauen sollten auf das, was wert wäre, auch in unsere Tage hinübergerettet zu werden. Nur Mut! Sapere aude!
Die Buchhändlerin, Verlegerin und Stadträtin Susanne Dagen, wurde 1972 in Dresden geboren. Nach Stationen in Zwickau und Rostock führt sie seit 1995 gemeinsam mit ihrem Partner Michael Bormann das BuchHaus Loschwitz in Dresden.
Angela Steidele, Aufklärung. Roman. Insel Verlag, 603 Seiten, 25,00 €.