Die Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin. „Sonst wär’n wir schon längst, russisch, chaotisch und grün.“ So singt das Grips-Theater in seinem Erfolgsmusical „Linie 1“. Der Text stammt aus den 80er Jahren, die Gemeine Wilmersdorfer Witwe ist längst tot – und Berlin chaotisch. Grün wird es vermutlich auch recht bald. Denn die Nachwahl bringt wahrscheinlich Bettina Jarasch ins Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Damit wäre dann Berlin nach Baden-Württemberg das zweite Bundesland, das mit grüner Richtlinienkompetenz regiert wird.
Jarasch setzt auf Führungsstärke als Mittel im Wahlkampf. Sie hatte einen Teil der Friedrichstraße zur autofreien Zone erklärt. Zum Unmut der SPD. Dann stoppte ein Gericht das Projekt. Doch mitten im Wahlkampf hat sich die „Mobilitätssenatorin“ über das Urteil hinweggesetzt und die Fußgängerzone in der Friedrichstraße wieder eingeführt. Das sorgt zwar für Unmut bei den Menschen, die Rot-Rot-Grün nicht wählen – stärkt aber Jarasch im eigenen Lager. Und wie sie bei diesem Schritt über die (noch) Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hinweggegangen ist, war ein klares Zeichen des Machtanspruchs.
Die Sozialdemokraten leiden an einem Paradoxon: Franziska Giffey hat versucht, sich bürgerlich zu geben – zumindest für sozialdemokratische Verhältnisse. Nur hat sie das halt nicht wirklich überzeugend getan. Spätestens mit der Silvesternacht hat sich gezeigt, dass Berlin kein Pflaster für Menschen ist, die in Ruhe, Recht und Ordnung leben wollen: Unsichere Bahnhöfe. Straßen, die unter der Dauerblockade von staatlich geduldeten Extremisten stehen. Eine Verkehrspolitik, die sich gegen Pendler richtet. Oder Behörden, die keine Termine für Anmeldungen vergeben – die aber Mahnungen verschicken, wenn die Anmeldungen nicht pünktlich erfolgen. Schon allein, dass die Wahl wiederholt werden muss, zeigt, wie wenig die Berliner Verwaltung unter rot-rot-grüner Führung zu eigentlich Selbstverständlichem in der Lage ist.
Doch, wie es aussieht, wollen die Berliner genauso regiert werden. Zumindest in der Innenstadt, wo eine Klientel wohnt, die vom Staat lebt, ihn aber verbal ablehnt. In diesem Umfeld der Doppelmoral fühlen sich die Grünen zuhause und holen selbst dann oder gerade dann ihre besten Ergebnisse, wenn die Stadt dysfunktional ist. In Friedrichshain-Kreuzberg 2 erreichten die Grünen vor anderthalb Jahren 37,3 Prozent. Die CDU scheint dieses Umfeld aufgegeben zu haben. Zumindest lässt ihre Präsenz beziehungsweise ihre Abwesenheit in den innenstädtischen Vierteln darauf schließen.
Besser sieht es für die CDU an den Rändern der Stadt aus. Die Faustregel lautet: Je kleiner die Häuser, desto größer die Chancen der Christdemokraten. Das gilt traditionell für den Südwesten der Stadt. Auch ohne Wilmersdorfer Witwen. In Dahlem, Wannsee, Zehlendorf oder Nikolassee leben die Menschen, für die Familie, Eigenheim und Arbeitsplatz kein gesellschaftliches Modell sind, das es zu überwinden gilt.
Eine Koalition, die das alte Erfolglos-Bündnis aus Rot-Grün-Rot sprengt, ist nicht in Sicht. Die Grünen haben bereits eine Zusammenarbeit mit der CDU ausgeschlossen. Das dürfte vor allem am Spitzenkandidaten liegen. Kai Wegner ist eher ein Kandidat der Ost-CDU, als der von Muttis Mitläufern. Mario Czaja, Generalsekretär der CDU und grüner Weichspülbeauftragter von Friedrich Merz, unterstellte Wegner bereits einen „riskanten Rechtskurs“. Der Unternehmensberater macht einen Wahlkampf, in dem er diesen Markenkern geschickt aufgreift und mit populären Botschaften versieht wie: „Spricht Berlinerisch. Und fließend Klartext.“ Damit nimmt Wegner in Kauf, dass ihn die Friedrichshainer B3-Boheme verachtet – solange ihn die Steglitzer Handwerkerin und der Karlshorster Unternehmer wählen.
Die Panik der Sozialdemokraten lässt sich daran ablesen, dass sie schon mehrere Botschaften versucht haben: Das 29-Euro-Ticket für alle etwa. Oder das Soziale, von dem die SPD stets kurz vor Wahlen entdeckt, dass es mal ihr Markenkern war – als Erinnerung, wenigstens für die Älteren unter den Wählern. Aktuell setzen die Sozialdemokraten auf die – vermeintliche – Popularität Giffeys und plakatieren sie großformatig mit dem Hinweis, dass sie die „Regierende“ sei. Wobei Giffey für die SPD in zwei Wochen in der Willy-Brandt-Stadt auch das Regierende darstellen könnte.