Tichys Einblick
Brokstedt und der deutsche Skandal

NDR: Verschweigen der Herkunft des Brokstedt-Täters dient der Demokratie

Der Attentäter von Brokstedt war schon seit 2015 durch vielfache Kriminalität aufgefallen und hatte nie einen gültigen Aufenthaltsgrund. Abgeschoben wurde er dennoch nicht. Derweil behauptet der NDR, dass das Verschweigen seiner Herkunft dem „Erhalt der Demokratie“ diene.

Logo am Gebäude des NDR-Fernsehen in Hamburg-Lokstedt

IMAGO / teutopress

Die Fahrgäste der RE 70 von Kiel nach Hamburg berichten von Todesangst, die sie nun erstmals erfahren mussten. Viele standen dem Gewalttäter Auge in Auge gegenüber, warfen Koffer nach ihm, um seinen Weg – die Blutspur, die er durch den Zug zog – aufzuhalten. Zwei Fahrgäste, offenbar eine junge Frau von 16 Jahren und ihr 19-jähriger Bekannter, wurden ermordet, sieben weitere zum Teil schwer verletzt.

Insgesamt zwölf Mal war Ibrahim A. mit dem Gesetz in Konflikt geraten – und das in nur sieben Jahren Aufenthalt in Deutschland. Aber die Vorgeschichte des „Mannes“ war dem NDR zunächst keine Zeile wert. Aus diesen beiden Fakten ergibt sich ein politischer und ein Medienskandal, daneben vielleicht auch ein Justizskandal, die so gemeinsam durch den Brokstedter Amoklauf ans Licht kommen.

Ibrahim A. kam im Dezember 2014 nach Deutschland, angeblich ursprünglich aus dem Gazastreifen. Wie die Welt berichtet, hat die Polizei seit seinem Asylantrag im Jahr 2015 wegen vielfältiger, teils schwerer Straftaten gegen Ibrahim A. ermittelt. Das begann noch 2015 mit einem ersten Ladendiebstahl und Scheckkartenmissbrauch im nordrhein-westfälischen Euskirchen. 2016 ermittelte die Polizei mehrfach wegen Ladendiebstahls und gefährlicher Körperverletzung in Euskirchen und Bad Münstereifel. 2018 fiel der „Schutzsuchende“ in Köln durch Körperverletzung auf. Ein Jahr später wurde er wegen sexueller Nötigung in Euskirchen belangt. 2020 fiel er dreimal wegen Körperverletzung in Bonn und Euskirchen, dazu einmal wegen Bedrohung auf. Sachbeschädigungen und weitere Ladendiebstähle kommen hinzu. Anfang 2022 war er offenbar nach Hamburg umgezogen, wo er durch seinen vorletzten Messerangriff auffiel.

Warum kam er nicht zumindest in Abschiebehaft?

Ibrahim A.s Asylantrag war schon 2016 abgelehnt worden. Er erhielt stattdessen subsidiären Schutz. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) klärt über den Begriff so auf: „Der subsidiäre Schutz greift ein, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.“ Es ist ein Weder-noch-Status, der manchmal auch aus Verlegenheit gewählt werden dürfte. In Ibrahim A.s Fall konnte seine Staatsangehörigkeit nicht ermittelt werden, weshalb er als „staatenlos“ galt. Laut Spiegel wurde ein Rücknahmeverfahren eingeleitet, unklar bleibt mit welchem Staat. Theoretisch müsste dem Täter sein Schutztitel aber entzogen worden sein, denn zu den Ausschlussgründen zählt laut BaMF auch das Begehen „einer schweren (nichtpolitischen) Straftat“. Die Fragen müssen gestellt werden, warum nicht größere Dringlichkeit an einer Abschiebung gearbeitet oder zumindest Abschiebehaft verhängt wurde. Oder wo beginnen die schweren Straftaten heutzutage? Zur Tatzeit konnte der Täter noch immer eine „Fiktionsbescheinigung“ vorweisen, die seinen Aufenthalt in Deutschland verlängerte.

Noch sechs Tage vor seinem Amoklauf befand sich der Mann ja in Untersuchungshaft. Laut Spiegel hatte er ein Jahr lang in U-Haft gesessen, vom 20. Januar 2022 bis zum 19. Januar dieses Jahres – und zwar wiederum wegen einer Messerattacke. Das bestätigte der Hamburger Gerichtssprecher Kai Wantzen. Am 18. Januar vor einem Jahr hatte Ibrahim A. in der Schlange vor einer Essensausgabe für Obdachlose mehrfach auf einen anderen Mann eingestochen. Die Folge waren „potentiell lebensgefährliche“ Verletzungen bei seinem Opfer. Ibrahim A. gab damals an, er habe vor der Tat Kokain, Heroin und Alkohol in großen Mengen eingenommen. A. wurde zu einer Haftstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt, aber weil er Berufung einlegte, blieb er in U-Haft. Als die Haftdauer fast sein Strafmaß erreichte, entschied eine Richterin am Hamburger Landgericht, dass A. noch am selben Tag freizulassen sei. Eine weitere U-Haft wäre laut Urteil „unverhältnismäßig“ gewesen.

„Flüchtlingskarrieren“ wie diese sind leider nicht ungewöhnlich in Deutschland. Bei Anis Amri, dem Attentäter vom Breitscheidplatz, war es nicht viel anders. Im Juli 2015 illegal nach Deutschland eingereist, gab es schon im Oktober des Jahres Hinweise auf die Verstrickung Amris in die salafistische Szene. Im Fall Amri führte auch die Einstufung als Gefährder (2015 und im Frühjahr 2016 wieder) sowie Straftaten wie Passfälschung, Schmuggel und Verkauf von Drogen oder gefährliche Körperverletzung nicht zu Konsequenzen. Entscheidend auch hier: Schwierigkeiten, Amri eine bestimmte Nationalität zuzuweisen. Kurz vor Weihnachten 2016 beging Amri seine Terrortat in einem Weihnachtsmarkt in Berlin-Charlottenburg. Bilanz: 13 Tote, rund 70 Verletzte, zahllose weitere traumatisiert. Was aber vom Tage bleibt, ist: So scheint es immer zu gehen, wenn der deutsche Staat Schwierigkeiten bei der „Integration“ von Zuwanderern erkennt. Man schaut weg, bis es zu spät ist.

NDR Hamburg: Verschweigen dient dem Erhalt der Demokratie

Bemerkenswert bleibt neben dem Behördenversagen auch das Verhalten deutscher Medien, zumal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dabei wiederum jenes Senders, der in Hamburg seinen Hauptsitz hat und auch federführend für die alltägliche Tagesschau zuständig ist. Dem NDR flog also eine Meldung unter die Nase, die er gut finden konnte oder nicht – berichten musste er wohl oder übel darüber.

So schrieb der NDR Hamburg am Tag der Tat zwar eine groß aufgemachte Meldung, ließ aber die Herkunft des Täters unerwähnt: „Ein Mann mit einem Messer“ hatte das Verbrechen begangen. Doch damit nicht genug: Sobald Leser in den Kommentarspalten (etwa auf Facebook) auf die fehlende Information hinwiesen, löschte der Sender diese Kommentare reihenweise, nicht ohne später auf seine Diskussionsregeln zu verweisen (hier wohl relevant: „2. Keine Beleidigungen, keine rassistischen oder sexistischen Äußerungen“).

Auch der Kommentar eines Nutzers, der die Löschung anderer Kommentare beklagte („NDR Löschzug unterwegs. Weil man die Herkunft des Täters benennt? So weit sind wir schon?“), wurde offenbar gelöscht, nachdem der NDR den Leser zurechtgewiesen hatte. Die Nennung der Herkunft, so der Sender, führe „zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung oder zu Fehlinterpretationen“. Gut, dass der NDR im Vorhinein weiß, was seine Gebührenzahler falsch verstehen könnten.

Als der genannte Facebook-Nutzer dieses schon fast eingestandene Zensurverhalten anklagte, vermutlich mit dem Verweis auf den Begriff „politische Korrektheit“, erwiderte der NDR Hamburg gemäß einem Screenshot: „Ja, Korrektheit ist uns sehr wichtig. Ebenso wie unsere Seiten von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu befreien. Das ist keine Zensur, sondern Erhalt der Demokratie.“ Was die Einschränkung des Meinungskorridors mit der Demokratie zu tun haben soll, bleibt schleierhaft. Ebenso, warum jeder Hinweis auf die Täterherkunft rassistisch oder fremdenfeindlich sein sollte. Es sind ja nur die Fakten.

Alle Argumente ausgetauscht: NDR dichtet sich gegen Kritik ab

Sechs Stunden, nachdem der Beitrag veröffentlicht wurde, schloss der NDR die Kommentarfunktion. Alle Argumente seien ausgetauscht, man wolle sich auf neue Postings und Diskussionen konzentrieren. Vermutlich auf solche, die besser in die eigene Weltsicht, das eigene Framing („Einrahmen“) der Realität passen. Davor hatte man noch mit einem ausführlichen Eigenkommentar reagiert:

„Die Herkunft eines Tatverdächtigen ist in der Regel nicht alleiniger Grund für eine Berichterstattung. Je weniger wir über die Hintergründe einer Tat wissen, desto zurückhaltender sind wir bei der Nennung der Herkunft. So nennen wir Nationalität manchmal nicht, wenn sie keine Relevanz für die Tat hat. Das ist dann in jedem Fall ein Punkt, den wir prüfen. Das Argument ‚andere Medien nennen die Herkunft‘ reicht nicht aus, um eine Herkunftsnennung zu rechtfertigen. Oft gibt es gute Gründe, die für die Nennung der Herkunft sprechen, ebenso wie dagegen. Es läuft also meist auf eine Abwägung hinaus. Wir freuen uns auf Ihre Kommentare und Diskussionsbeiträge zum Thema. Um eine faire und sachliche Diskussion zu ermöglichen, gelten die folgenden Regeln. Als Gastgeber behalten wir uns vor, Ihre Beiträge zu löschen oder gar nicht erst zu veröffentlichen, wenn sie gegen diese Regeln verstoßen. Bei wiederholten Verstößen behalten wir uns einen Ausschluss von der Diskussion vor.“

Trotz des sätzelangen Um-den-heißen-Brei-Herumredens lohnt es sich vielleicht doch, dieses Statement einmal durchzulesen, um die Nachrichtenpolitik des Senders zu verstehen. Kurz gesagt würde sie etwa so lauten: Unsere Nachrichtenregeln schreiben wir selbst. Um klassische Regeln des Journalismus wie die „Sechs W“ („Wer hat was wann wo wie und, eventuell, warum gemacht?“) kümmern wir uns hier im Funkhaus schon lange nicht mehr, seit die Realität da draußen so unübersichtlich geworden ist. Über die Relevanz von Fakten entscheiden wir lieber selbst. Auch was in Polizeimeldungen steht, interessiert uns dabei nicht.

Antworten auf diesen Kommentar waren noch möglich. Unter anderem wurde gefragt, warum man dann überhaupt noch feststelle, dass „ein Mann“ die Tat beging. „Mensch“ müsse doch ausreichen. Außerdem wäre das mit Sicherheit nicht sexistisch.

Auch das ZDF-MoMa wusste nichts von dem, was die Polizei mitteilte

Ähnlich benahm sich das ZDF, das etwas von einer Messerattacke und „einem Mann“ berichtete. Am nächsten Morgen wurde auch die wiedereingekehrte „Normalität“ in Brokstedt für nachrichtenwürdig befunden. Brennpunkte fanden weder in der ARD noch im ZDF statt.

Am 26. Januar, um 7.15 Uhr korrigierte der NDR seine Berichterstattung und berichtete nun auch – gemäß Polizei und Innenministerin – von der Herkunft des Täters. NDR Info hatte das tatsächlich schon am Abend zuvor geschafft. Das Strafregister Ibrahim A.s, so macht nun auch der NDR Hamburg kund, sei lang – „politisch motivierte Taten“ seien „aber offenbar nicht darunter“ gewesen. Man zieht sich auf das Unleugbare zurück. Als ob eine Bluttat weniger schlimm wird, wenn sie aus „unpolitischem“ Grund geschieht. Der NDR bleibt so seiner Linie des Verharmlosens treu.

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