Tichys Einblick
Immer weniger sprechen des anderen Sprache

60 Jahre Élysée-Vertrag – Unterschiedlicher könnte die Bewertung nicht sein

Kanzler Scholz: „Deutschland und Frankreich sind Freunde und enge Partner." Macrons Ex-Berater Fort: „Die deutsche Kultur ist den Franzosen fremd geworden.“

IMAGO / UPI Photo

Am Sonntag, 22. Januar 2023, exakt 60 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags durch Staatspräsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer, reist Kanzler Olaf Scholz mit seinem Kabinett nach Paris zum Deutsch-Französischen Ministerrat. Vorab hat Scholz in einer Videobotschaft dazu verkündet: „Nun, 60 Jahre später, können wir sagen: das ursprüngliche Friedensprojekt ist vollendet … Deutschland und Frankreich sind Freunde und enge Partner.“

Nein, vollendet ist nichts. Im Gegenteil: Da driftet manches auseinander. Ein ehemaliger Berater von Macron macht sich Sorgen. In einem Interview vom 20. Januar 2023 sagt Sylvain Fort: „Die deutsche Kultur ist den Franzosen fremd geworden.“ Sylvain Fort zieht gar eine desaströse Bilanz des deutsch-französischen Verhältnisses – mit gefährlichen Folgen für Europa. Die Schuld gibt er Frankreichs Schulen, aber auch Angela Merkel und Olaf Scholz. Der französische Deutschland-Kenner Sylvain Fort (50) war enger Berater, Pressechef, Redenschreiber von Präsident Emmanuel Macron während dessen erster Amtszeit. Fort ist ein hervorragender Kenner Deutschlands und dessen Kultur: als Germanist, Schiller-Übersetzer, Essayist und Buchautor. Heute ist er Partner einer weltweiten PR-Agentur.

Die deutsche Sprache verliert an Frankreichs Schulen – politisch gewollt

Sylvain Fort macht das Auseinanderdriften vor allem daran fest, dass immer weniger Franzosen Deutsch lernen. Dahinter, so Font, stehe ein gezielter politischer Wille, man versuche, die Schüler von dieser Sprache abzubringen, um die Bildung von elitären Zweigen zu verhindern. Denn die für Franzosen schwer zu erlernende deutsche Sprache sei, wie auch Griechisch und Latein, aus Angst vor Elitenbildung nach und nach aus dem französischen Schulsystem verdrängt worden.

Dabei wäre die Förderung der deutschen Sprache an Frankreichs Schulen eigentlich Verpflichtung laut Élysée-Vertrag gewesen. Das ist eines Tages in Vergessenheit geraten. Dann kam obendrein unter Präsident Hollande die 1977 in Marokko geborene Sozialistin Najat Vallaud-Belkacem von 2014 bis 2017 in das Amt der französischen Bildungsministerin. Sie schaffte die bilingualen Klassen ab und baute den Deutschunterricht ab, weil angeblich zu elitär. Sie wollte die Schule zu einem „Hort der Gleichheit“ zu machen. Dazu gehörte, dass sie den Latein- und Altgriechisch-Unterricht sowie Deutsch- und Englischklassen einschränkte, da dieser Unterricht eher für Wohlhabende sei. Übrigens wollte die Ministerin zugleich in den Grundschulen biologische Geschlechterunterschiede in Frage gestellt wissen. Sie forderte zudem, die sexuelle Orientierung von historischen Persönlichkeiten in Schulbüchern hervorzuheben, denn die „Schulbücher verschweigen bei historischen Persönlichkeiten, ob sie lesbisch, schwul, bi oder trans waren.“ Die Zeitschrift „Valeurs actuelles“ titulierte die Sozialistin denn auch als „Umerziehungsministerin“, und Hervé Mariton, Minister unter Staatspräsident Jacques Chirac, nannte die Bildungsministerin gar eine „rosa Khmer.“

Mittlerweile werden Latein und Griechisch gar nicht mehr unterrichtet. Der Sprachunterricht ist durch Zivilisationskunde ersetzt worden. Jüngstes Opfer dieser Politik in Frankreich ist auch die Mathematik. Font wörtlich: „Wir haben es mit einem sagenhaften Misstrauen gegenüber allen Fächern zu tun, die intellektuelle Sorgfalt und Anstrengung erfordern und die man objektiv beurteilen kann.“ „Égalité“ eben – wie 1789, als sogar Kirchtürme abgerissen wurden, weil unterschiedlich hoch. Und: Es werden Lehrerstellen für den Deutschunterricht abgebaut.

Font weiter: „Die Folge ist, dass wir uns nicht mehr kennen. Die deutsche Kultur ist den Franzosen fremd geworden. Es gibt beispielsweise in Paris keine einzige deutsche Buchhandlung mehr. Die jungen Leute fahren nicht mehr für Sprachkurse nach Deutschland, sie haben keine Briefpartner mehr. Das Deutsch-Französische Jugendwerk tut, was es kann, aber viel kann es nicht leisten. Und am Ende dieser Kette erleben wir eine deutsch-französische Krise wie diesen Herbst, wo wir nur noch feststellen, dass die Franzosen die Deutschen nicht mehr verstehen.“ Auch fehlen, so Font im Interview weiter, „Übersetzter zwischen den Kulturen“ wie beispielsweise Alfred Grosser. Und: Professoren, die Deutsch oder deutsche Geschichte und Zivilisation in Frankreich unterrichtet haben und symbolisch für diese Verbindung stehen, sind heute alle über 80. Niemand hat ihr Erbe angetreten.

Font kritisiert auch das Desinteresse Macrons an Deutschland. Er müsste, so Font, sich eigentlich mit Menschen umgeben, die eine Verbindung zu Deutschland haben. Font wörtlich: „Jetzt stellen wir aber fest, dass dies allein nicht reicht, weil Vermittler in der Zivilgesellschaft, in der Wirtschaft, in Forschung und Bildung fehlen.“

Leidenschaftslosigkeit der Regierenden – dazu linker/rechter Antigermanismus

All dies stärke Frankreichs Links- und Rechtspopulisten in ihrem Anti-Germanismus, so Font. Diese würden jetzt in großer Zahl im Parlament sitzen. Und: Diese Leute hätten verstanden, dass Frankreich und Deutschland der Kern des europäischen Projekts seien und eine Schwächung dieser Beziehung sie ihrem Ziel näherbringe, das europäische Projekt zu schwächen. Die rechtspopulistische Marine Le Pen (Rassemblement National) und der linkspopulistische Jean-Luc Mélenchon (France Insoumise) wüssten sehr genau, dass das deutsch-französische Paar der Grundstein der EU sei. Wenn man ihn wegziehe, breche alles zusammen.

Font meint weiterhin: Zwischen Deutschland und Frankreich ist die Leidenschaft heute raus. Beim berühmten Handschlag von François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun (1984) sei das noch anders gewesen. Auch als Konrad Adenauer 1958 zu Gast bei Charles de Gaulle in Colombey-les-deux-Églises war, sei das ein starkes Symbol einer Freundschaft im wahrsten Sinne des Wortes gewesen. Heute aber sei die Beziehung beider Länder eine reine diplomatische geworden, zweifellos eine diplomatische Beziehung ersten Ranges, aber keine, in der das geringste persönliche Engagement stecke. Macron, so Font, habe das anfangs wiederbeleben wollen, aber von Angela Merkel sei nichts zurückgekommen. Macron sei es dann irgendwann leid gewesen, die Hand auszustrecken, die Merkel einfach nicht ergriff. Was das Verhältnis zwischen Macron und Scholz betrifft, so meint Font, politisch seien sie sich in vielen Punkten einig, was aber das Persönliche betrifft, hätten sie keinen einzigen Schritt aufeinander zugemacht. Beide befänden sich heute eher in einem Machtkampf als in einer Freundschaftsbeziehung, so Font.

Apropos Sprachunterricht: Im Élysée-Vertrag von 1963 heißt es wörtlich: „Die beiden Regierungen erkennen die wesentliche Bedeutung an, die der Kenntnis der Sprache des anderen in jedem der beiden Länder für die deutsch-französische Zusammenarbeit zukommt. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der deutschen Schüler, die Französisch lernen, und die der französischen Schüler, die Deutsch lernen, zu erhöhen.“

Nun: Frankreich erfüllt diese Verpflichtung seit geraumer Zeit nicht mehr. Je nach Statistik sind es um die zehn Prozent der französischen Schüler, die Deutsch als zweite Fremdsprache erlernen. Deutsch gerät hier hinter das Spanische ins Abseits. Allerdings verliert die französische Sprache als zweite Fremdsprache auch an Deutschlands Schulen zugunsten der spanischen Sprache an Bedeutung. Zuletzt waren es bundesweit nur noch 15 Prozent der Schüler, die Französisch lernten. (Ausnahme: das Saarland mit 51 Prozent). Das Spanische gilt als leichter zu erlernen. Macron und Scholz hätten auch in dieser Hinsicht einiges zu besprechen.

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