Tichys Einblick
Sollen impliziert Können

Freiheit und Wissenschaft

Es kann kein Wissen geben, aus welcher Quelle auch immer es stammen mag – Naturwissenschaft, Philosophie, Religion –, das uns als unfrei erweist. Diese Grundlage, dass Freiheit vor Wissenschaft steht, ist in der politischen Reaktion auf die Corona-Virenwellen verlorengegangen, ja geradezu umgekehrt worden. Von Michael Esfeld

Freiheit ist die condition humaine. Wenn wir denken und handeln, dann sind wir frei. Das ist deshalb so, weil man für Gedanken und Handlungen – und nur für diese – Gründe und damit Rechtfertigungen verlangen kann. Wenn der Sturm einen Baum umhaut und dadurch ein Mensch zu Schaden kommt, dann kann man den Sturm nicht zur Rechenschaft ziehen. Wenn ein Mensch so etwas tut und einen anderen Menschen verletzt, dann zieht man ihn zur Rechenschaft und wirft ihm vor, zumindest grob fahrlässig gehandelt zu haben. Er hätte anders handeln sollen und damit auch anders handeln können. Er war und ist frei, so oder anders zu handeln.

Wenn ein Ameisenhaufen Spuren im Boden zieht, welche die syntaktische Form „Wale sind Fische“ ergeben, dann würden wir uns wundern, weil das spontane Auftreten einer solchen Bewegungsform äußerst unwahrscheinlich ist; aber wir würden es nicht als eine Behauptung ansehen, für die wir Gründe verlangen bzw. der wir mit Gründen widersprechen. Wenn ein Mensch so etwas macht, würden wir jedoch genau dies tun. Er hätte sich in diesem Falle erst einmal weitere Informationen beschaffen sollen, statt sich durch die Beobachtung von Walen im Wasser zu der Behauptung verleiten zu lassen, dass Wale Fische sind. Er hätte anders denken sollen und damit auch anders denken können. Er war und ist frei, so oder anders zu denken.

Sollen impliziert Können. Die Begründung dafür, dass wir im Denken und Handeln frei sind, besteht in der Tat darin, dass wir mit Vernunft ausgestattete Wesen sind; denn nur von solchen Wesen kann man Gründe und damit Rechtfertigungen für ihr Verhalten verlangen. Vernunft und Freiheit gehen zusammen. Deshalb stellt sich nicht das Problem, Freiheit von zufälligem, gesetzes- oder regellosem Geschehen abzugrenzen. Die alltäglichen Vorgänge, in denen wir uns wechselseitig so behandeln, dass wir für unser Verhalten rechenschaftspflichtig sind, zeigen, dass wir in der Tat frei sind.

Natürlich kann es punktuell Irrtümer geben – Situationen, in denen jemand sich nicht anders verhalten konnte und deshalb keiner Rechenschaft unterliegt. Aber es kann kein kollektiver Irrtum sein, dass wir uns für frei halten. Die entsprechende Behauptung würde gerade das zum Ausdruck bringen, was sie negiert: Für die Behauptung, dass wir nicht frei sind, müsste man Gründe geben können und würde durch den entsprechenden Versuch gerade zeigen, dass man frei ist.

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Folglich kann es kein Wissen geben, aus welcher Quelle auch immer es stammen mag – Naturwissenschaft, Philosophie, Religion –, das uns als unfrei erweist. Diese Grundlage, dass Freiheit vor Wissenschaft steht, ist in der politischen Reaktion auf die Corona-Virenwellen verlorengegangen, ja geradezu umgekehrt worden: Wissenschaft stellt sich vor Freiheit. Bleiben wir noch einen Moment bei den allgemeinen Zusammenhängen, bevor wir mit diesem Rüstzeug dann konkret auf die Corona-Situation eingehen.

Natürlich können Wissenschaften wie insbesondere Neurobiologie und Psychologie Irrtümer dergestalt aufdecken, dass wir uns manchmal für frei halten, aber lediglich impulsiv oder emotional auf Reize reagiert haben in einer Weise, dass wir in den betreffenden Situationen gar nicht denk- und handlungsfähig waren. Solche Forschungsergebnisse sind daher Aufklärungen darüber, an welchen Stellen wir das Potenzial noch besser realisieren können, das wir als mit Vernunft ausgestattete Wesen haben.

Aber wenn man Vernunft gebraucht, ist man frei, weil die biologischen Gegebenheiten das Denken und Handeln nicht vorgeben. Vernunft und Freiheit gehen daher zusammen. Immanuel Kant drückt dies in den Prolegomena zu einer jeden zukünftigen Metaphysik (1783) so aus:

Wenn uns Erscheinung gegeben ist, so sind wir noch ganz frei,
wie wir die Sache daraus beurteilen wollen.
(§ 13, Anmerkung III)

Ein Urteil entsteht dadurch, dass eine Person etwas ihr Gegebenes in den Status eines Grundes für einen Gedanken oder eine Handlung erhebt. Dabei stellt sie es in einen Zusammenhang mit anderem ihr Gegebenen: Eine Beobachtung zum Beispiel wird als zuverlässig eingestuft, weil sie durch andere Beobachtungen gestützt wird. So baut die Person einen Begründungs- oder Recht­fertigungszusammenhang

auf. Während Kant mit dem „wir“ in der oben zitierten Aussage jeden von uns als transzendentales Subjekt meint (das heißt, als Person, deren Verhalten nicht einfach gemäß Naturgesetzen geschieht), verstehen wir dies heute, nach dem linguistic turn im 20. Jahrhundert, als einen sozialen Prozess. Wir können Urteile nur zusammen, nur in sozialer Interaktion bilden, indem wir uns gegenseitig korrigieren und dadurch Erkenntnisfortschritt, sozialen Fortschritt und auch moralischen Fortschritt erzielen. Wir befreien uns kollektiv von biologischen Zwängen und schaffen genau dadurch individuelle Freiheit.

Erkenntnisfortschritt durch soziale Interaktion setzt voraus, jeden mündigen Menschen als Person anzuerkennen, die Vernunft gebrauchen kann, daher frei und zur Selbstbestimmung befähigt ist. Diese Freiheit ist der Wissenschaft vorrangig: Sie ist die Voraussetzung für das Bilden von Urteilen und damit das Schaffen von Wissen.

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Die Grundrechte von Personen sind damit der Wissenschaft entzogen: Sie bedürfen weder einer Begründung durch Wissenschaft, noch könnte Wissenschaft eine solche Begründung leisten. Anders gesagt: Wissenschaft kann nicht ihre eigenen Voraussetzungen begründen. Sie kann diese höchstens zerstören und damit auch sich selbst. Genau das ist es, was wir seit Frühjahr 2020 erlebt haben: Die Selbstzerstörung von Wissenschaft im Namen von Wissenschaft und vorangetrieben durch ihre Institutionen (wie unter anderem Akademien).

Bisher gehörte es nur zum Instrumentarium autoritärer Staaten, Grundrechte einzuschränken und dafür Instanzen mit einer intellektuellen und moralischen Reputation zur Legimitation heranzuziehen, wie zum Beispiel Kirchen oder auch die Wissenschaft.

Letzteres, das Heranziehen von Wissenschaft zur Legimitation staatlicher Herrschaft, die sich über Grundrechte hinwegsetzt, erfolgt in der Regel nach folgendem Schema: Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen angeblich, dass bestimmte Menschen aufgrund ihres sozialen oder genetischen oder sonstigen gesundheitlichen Status eine Gefahr für das Allgemeinwohl darstellen. Wissenschaft erkennt diese Gefahr als so unmittelbar, dass sofortiges staatliches Handeln über die Grundrechte der betreffenden Menschen hinweg erforderlich ist.

Dieses Schema haben wir in Aktion gesehen mit Gesundheitspässen und 2G-/3G-Regelungen. Wie in allen aus der Geschichte bekannten Fällen löst sich auch in diesem Fall die angebliche wissenschaftliche Legitimation bei genauerem Hinsehen in Schall und Rauch auf: Es gab und gibt keine Pandemie von Ungeimpften, mit der unterschiedliche Rechte aufgrund des Impfstatus begründet werden könnten.

Wenn Wissenschaft sich anmaßt, über den Grundrechten zu stehen und darüber zu entscheiden, wem diese zukommen und wem sie nicht zukommen, dann zerstört sie sich selbst. Auch das haben wir seit Frühjahr 2020 erlebt: nicht den Triumph von Wissenschaft in der Aufklärung der Öffentlichkeit über Gesundheitsrisiken, die für bestimmte Personengruppen von den Corona-Virenwellen ausgehen, sondern die Selbstzerstörung von Wissenschaft durch ihre politische Instrumentalisierung.

Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür ist das Editorial der Zeitschrift Science vom 26. November 2021: „Vax the world“. Zunächst sollte nach dem Willen der Verfasser die gesamte Weltbevölkerung regelmäßigen Impfungen gegen das Coronavirus unterzogen werden – und zwar unabhängig davon, ob die einzelnen Menschen das aus eigener Überlegung und Entscheidung tun wollen; danach soll der Klimawandel auf die gleiche Weise angegangen werden.

Selbstzerstörung von Wissenschaft ist dies deshalb, weil die wissenschaftliche Legitimation eines solchen politischen Programmes es verhindert, eine ergebnisoffene und an Wahrheit orientierte wissenschaftliche Untersuchung des betreffenden Gegenstandes (Impfungen, Klimawandel etc.) vorzunehmen.

Bis heute (Mitte 2022) verfügt dasjenige, was als Corona-Impfstoffe angepriesen wird, nur über eine bedingte Zulassung. Eine solche ist für den gezielten Schutz gefährdeter Personen in Notsituationen gedacht und besteht unter der Auflage methodischer Skepsis. Das heißt im Falle von Medikamenten insbesondere, Verdachtsfällen signifikanter Nebenwirkungen systematisch nachzugehen.

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Es wäre daher erforderlich gewesen, die Zulassungsstudien für die Impfstoffe wie ursprünglich vorgesehen über zwei Jahre durchzuführen, um die Fragen zu Selbstschutz, Fremdschutz und Nebenwirkungen mit den üblichen Standards wissenschaftlicher Sorgfalt zu untersuchen. Was stattdessen geschah, fasst ein Artikel im British Medical Journal Ende 2021 treffend so zusammen: „Covid-19 vaccines were widely administered following ‚conditional’ authorisation based on short clinical trials, when important questions remained unanswered.”

Das gleiche gilt für alle politischen Maßnahmen der letzten zwei Jahre, zu deren Legitimation Wissenschaft herangezogen wur­de: Es werden keine systematischen, ergebnisoffenen und an Wahrheit orientierten Untersuchungen über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der einzelnen Maßnahmen vorangetrieben.

Wir wissen nicht, wie viele der als Coronatote deklarierten Personen infolge der Infektion mit dem Virus gestorben sind und bei wie vielen dieser Personen andere Faktoren die vorrangige Todesursache sind. Die Aussage „im Zusammenhang mit einer Infektion“ ist wissenschaftlich gehaltlos: Sie sagt nichts darüber aus, ob eine bloß zeitliche Abfolge vorliegt oder ob es sich um einen Kausalzusammenhang handelt. Dasselbe gilt für die als Covid-Patienten aufgeführten Krankenhauseinweisungen: Es gab und gibt keine systematische Unter­suchung, ob eine Infektion mit dem Coronavirus oder etwas anderes die Ursache für die Behandlung im Krankenhaus ist. Wissenschaftliche Forschung wäre hier dringend erforderlich.

Wir sind hier Zeugen – und zum Teil auch Opfer – eines eklatanten Versagens von Wissenschaft: Ergebnisoffene, wissenschaftliche Neugierde, methodische, disziplinierte Skepsis, um durch kritisches Fragen stichhaltige Erkenntnisse gewinnen zu können, alle diese Mittel wissenschaftlicher Wahrheitsfindung wurden über Bord geworfen, um der Versuchung erliegen zu können, Wissenschaft in ein politisches Programm mit entsprechender Macht über das Leben von Menschen zu verwandeln.

Wenn die Menschen allerdings merken, was man ihnen antut, besteht die Gefahr, dass sie sich gegen Wissenschaft als solche wenden. Das wäre fatal für die Zukunft unserer Gesellschaft: Wir verdanken der neuzeitlichen Naturwissenschaft einen enormen technologischen, medizinischen und sozialen Fortschritt, durch den es gelungen ist, einer immer größeren Zahl von Menschen einen Gewinn an Lebensqualität und Lebenszeit zu verschaffen und neue Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.

Dazu trägt Wissenschaft aber nur dann bei, wenn sie respektiert, dass die Selbstbestimmung und die Grundrechte der Menschen ihr vorrangig sind und nicht ihrer Verfügungsgewalt unterliegen. Dahin zurückzukehren, dies zu respektieren, ist im grundlegenden Interesse von Wissenschaft, nämlich dem Interesse daran, Erkenntnisse zu gewinnen und Wahrheit über die Tatsachen herauszufinden. Ebenso ist dies im gesellschaftlichen Interesse, nämlich dem Interesse daran, den Weg technologischen, medizinischen, wirtschaftlichen, medizinischen und sozialen Fortschritts wieder aufzunehmen, der auf der Anerkennung von jedem Menschen als Person beruht.


Um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Essay von Michael Esfeld aus:
Kostner/Lieske, Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung. Ibidem, Paperback, 210 Seiten, 24,00 €.


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