Am 30. Dezember, also klassisch gesprochen zwischen den Jahren, kurz vor dem auch dieses Jahr festlich begangenen, alle Aufmerksamkeit absorbierenden Jahresabschluss, veröffentlichte der Spiegel endlich seine „Aufarbeitung“ in eigener Sache zu den Verfehlungen in Sachen der 38 Evros-Flüchtlinge vom vergangenen Sommer. Die Geschichte, die das Hamburger Blatt in mindestens drei Artikeln und einem Podcast auswalzte, stellte sich im Nachhinein als ziemlich löchrige Angelegenheit dar, die sich praktisch nur auf die Aussagen einer Zeugin und „Migrantin“ vor Ort und einige ebenso unsichere Fotos stützte. Zudem waren Pro-Migration-NGOs in die Sache verwickelt und versorgten auch den Spiegel mit angeblichen Informationen und Kontakten – so auch zu der „Syrerin Baidaa S.“, die laut Spiegel-Aufarbeitung „zu der Gruppe der Geflüchteten“ gehörte und als einzige dort Englisch sprach.
Leichtes Stirnrunzeln erzeugte allerdings das Tempo, mit dem die angebliche Syrerin nach der Aufnahme im Grenzlager Fylakio in einen Athener Flieger und damit nach Deutschland kam, während die griechischen Behörden angegeben hatten, dass sie in ein anderes Migrantenheim überführt worden sei. Einen Tag nach ihrer Ankunft postete sie schon Bilder aus dem Flugzeug via TikTok. In dem inzwischen gelöschten Video schrieb sie auf Arabisch: „Ich bin in Deutschland angekommen. Es war ein langer Kampf.“ Auch zwei weitere der 38 Migranten vom Evros leben inzwischen in Deutschland und Holland – ebenso zweifelhafte Geschichten, die einen nachdenken lassen, welcher Natur ihre „Flucht“ über den Evros wirklich war.
War alles nur Inszenierung?
Mussten die beiden Männer und Baidaa S. kein aufwendiges Asylverfahren durchlaufen, das auch in Griechenland mehr als einige Stunden oder Tagen braucht? Auch der Spiegel konnte sich das in seiner Aufarbeitung nicht erklären. Daneben stand Baidaas Name auch nicht auf einer Liste, die die Migrantengruppe zuvor an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschickt hatte, um eine Eilentscheidung zu ihren Gunsten zu erwirken.
Laut Spiegel lebt sie „inzwischen in Rheinland-Pfalz“. In ihrem Dorf bekam sie mittlerweile Besuch von ein paar Journalisten der NZZ, die von ihr mehr über die Evros-Erfahrung wissen wollen. Doch darüber will Baidaa S. wie alle anderen Beteiligten nicht mehr sprechen. „Es war eine schwere, traurige Zeit. Jetzt will ich ein neues Leben anfangen“, sagt sie den Reportern.
Baidaa S. pendelte zwischen Deutschland und der Türkei
Ihren syrischen Mann soll Baidaa laut Spiegel-Aufarbeitung erst nach der gelungenen „Flucht“ geheiratet haben. Verlobt war sie laut NZZ aber schon seit 2021 mit ihm. Da war Baidaa in „Germany“. An ihrem Wohnort merkte man nicht einmal so recht, dass sie für kurze Zeit weg war. Sie hatte angeblich mehr als 24.000 Follower auf Instagram und veröffentlichte viel. In den letzten Tagen hat Baidaa S. – oder Baidaa Alsaleh, wie sie sich selbst zu nennen scheint – aber alle ihre Social-Media-Profile gelöscht, um Spuren zu tilgen, wie die NZZ vermutet.
Auch einige Außenaufnahmen aus Deutschland gibt es, daneben Posts aus Dubai und Rakka in Nordsyrien. Es scheint transparent, dass Baidaa Alsaleh keine Migrantin oder „Geflüchtete“ war, schon gar nicht eine, die von ihrer 70-jährigen Großmutter begleitet wurde. Der NZZ sagte sie nun den rätselhaften Satz, dass ihre Großmutter „noch nicht in Griechenland“ sei. Im Sommer war auch das rein-fiktive Schicksal der älteren Frau in den Spiegel-Berichten aufgetaucht, nachdem Baidaa dem Spiegel-Schreiber Giorgos Christides etwas in diesem Sinne erzählt hatte.
Spiegel-Mann verfolgte Instagram-Account
Warum, wie und auf welchen Wegen Baidaa S. an den Evros reiste, ist nicht klar. Sicher scheint aber: Sie kam nicht als verfolgte Syrerin dorthin, sondern als Migrantendarstellerin, die zudem durch medienwirksame Berichte versuchte, einen Eindruck bei der Öffentlichkeit zu hinterlassen, der die Debatte um illegale Einreisen und Grenzschutz an der griechisch-türkischen Grenze beeinflussen sollte. Es war ein Komplott gegen die Öffentlichkeit, das mindestens der Syrerin und den Kreisen, die sie unterstützten, die sie offenbar an ihren Platz in diesem Theaterstück gestellt haben, zuzuschreiben ist.
Denn wenn Christides wusste, dass Baidaa S. schon vor dem Sommer 2022 in Deutschland war, dann waren seine Artikel von Anfang an wilde Phantasieprodukte und ideologische Gespinste, geschrieben für die internationale No-Borders-Fraktion, nichts weiter. Und dafür setzte das Blatt seine Reputation aufs Spiel. Nicht klar ist freilich, wann Christides das Instagram-Profil entdeckte. Doch sobald er es kannte, muss man dem Investigativ-Reporter zutrauen, die logischen Schlüsse aus den Posts zu ziehen. Das geschah nicht, jedenfalls nicht in den veröffentlichten Artikeln im Spiegel. Dort ging es um die exemplarische Darstellung eines so nie geschehenen Vorfalls, des Scheiterns einer Gruppe von 38 Migranten auf einer Evros-Insel, inszeniert als Scheitern am griechischen Grenzschutz. Die unübersichtliche Realität konnte dabei in bester Relotius-Tradition nur stören.
Widerstandsstücke gegen die Realität, im „Spiegel“ abgedruckt
Doch nicht nur Christides ist damit in Schwierigkeiten. Auch Maximilian Popp, stellvertretender Ressortleiter Ausland, der die Texte aus dem Englischen ins Deutsche brachte, steht mit den neuen Enthüllungen unter Beschuss.
Der Ruf des Spiegel ist damit ernsthaft erschüttert – nicht nur in Deutschland, wo man die phantasievollen Methoden des Blattes schon früher kennenlernen durfte. Auch im Ausland spricht sich nun herum, was durch die Redaktion selbst bestätigt wurde: Die Überprüfung einer Geschichte wird beim Spiegel durchaus nicht immer so genau genommen, wie es seine Fans und Verfechter gerne glauben möchten. Ganz konkret: Bei der Geschichte um Baidaa S. blieb keine Zeit mehr, die Dokumentationsabteilung hinzuzuziehen. Vielleicht wusste oder ahnte man aber auch, dass dieser Artikel es dort schwer haben könnte, weil ihm die nötige Faktenbasis fehlte.
Die drei Artikel zum Fall „Maria“ erschienen als „pièces de résistance“, Stücke des Widerstands gegen die sperrige Realität, die einfach nicht zur Anklage gegen effizienten Grenzschutz passen wollte, der ja eben verhindert, dass Migranten in die Lage der 38 kommen (Fußnote am Rande). Um das Narrativ von den unglückseligen Migranten an Europas Toren aufrechtzuerhalten, verließ man sich letztlich auf unsichere Fahrensleute wie Baidaa S., aber auch die beteiligten NGOs, die man eigentlich leicht enttarnen konnte. Die Frage ist, ob man das wollte.