Einer aktuellen Meldung des Redaktionsnetzwerks Deutschland zufolge hat sich im Vergleich zum Vorjahr die Anzahl der Kriegsdienstverweigerer 2022 nahezu verfünffacht (von 201 auf 951). Davon waren 223 Anträge von aktiven Soldaten und 266 von Reservisten. Der Meldung nach begründen viele Kriegsdienstverweigerer ihre Anträge mit dem Krieg gegen die Ukraine und dessen möglicher Eskalation. Zudem gehen seit 2022 die Bewerberzahlen für den militärischen Dienst zurück. Es denken angesichts eines zunehmenden Bedrohungsgefühls offensichtlich viele um, die bei einer Ausweitung des Krieges buchstäblich an vorderster Front stehen würden.
Der erste Blick mag leicht täuschen, weil die absoluten Zahlen trotz des bemerkenswerten Anstiegs scheinbar auf einem überschaubaren Niveau liegen. Ein paar 100 Soldaten weniger bei über 180.000 sollte nicht weiter ins Gewicht fallen. Geringfügige Schwankungen der Truppenstärke sind normal. Unsere Armee ist auch nicht allein auf der Welt, sie konkurriert wie alle anderen Bereiche des öffentlichen Dienstes mit dem Arbeitskräftebedarf der freien Wirtschaft. Der Fachkräftemangel wird früher oder später alle treffen. Andere Mütter haben eben auch schöne Töchter, heißt das kurz und bündig im Soldatenjargon.
Den Kriegsdienst verweigern
Schauen wir aber etwas genauer auf die Materie: Im Ersten Weltkrieg wurde Kriegsdienstverweigerung (KDV) als Fahnenflucht oder Landesverrat mit schweren Zuchthausstrafen geahndet, im Nationalsozialismus wurde sie als Wehrkraftzersetzung eingestuft – mit der Todesstrafe im Gefolge. Die Deutsche Demokratische Republik kannte kein Recht auf KDV, legal, aber mit Schikanen behaftet, war lediglich ein waffenloser Dienst als Bausoldat innerhalb der Nationalen Volksarmee. In der Bundesrepublik wurde die KDV von Beginn an mit Verfassungsrang im Grundgesetz verankert. Die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, ist älter als die Bundeswehr selbst. Mit dem Wehrpflichtgesetz vom 20. Juli 1956 wurde ein ziviler Ersatzdienst ergänzt.
Nun ist die Wehrpflicht aber mehr oder weniger Geschichte. Seit 2011 wird kein Mensch mehr gegen seinen Willen zum Militär eingezogen. Mithin leistet heutzutage jeder Soldat seinen Dienst mit der Waffe kraft freiwilliger Verpflichtung. Man sollte daher davon ausgehen können, dass der Verpflichtung zum militärischen Dienst eine ernsthafte eigene Gewissensprüfung vorausgeht. Schließlich gelobt der Soldat oder schwört je nach Dienstverhältnis, „das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“.
Die Tapferkeit ist eine aus dem Soldatengesetz ableitbare Dienstpflicht. Wer Soldatenpflichten vernachlässigt, begeht ein Dienstvergehen. Am scharfen Ende kann der Kriegseinsatz stehen, dafür verpflichtet sich jeder Soldat, dafür wird er ausgebildet. Haben Feuerwehrleute, die bei einem Brand die Feuerwehr verlassen, ihren Arbeitgeber etwa nur aus opportunistischen Gründen gewählt? Gilt Ähnliches nicht auch für Zeit- und Berufssoldaten, die den Einsatz verweigern, wenn es brenzlig zu werden droht?
Eid und feierliches Gelöbnis
Ohne tiefere Befassung mit der Materie könnte man womöglich annehmen, dass bei einer Freiwilligenarmee das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes entfallen kann. Mit Aussetzung der Wehrpflicht blieb jedenfalls das Recht bestehen, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen gemäß Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes zu verweigern. Zu entscheiden hat das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, dem Anträge über die Karrierecenter zuzuleiten sind. Wer ohne gesetzlichen Zwang zur Bundeswehr geht und sich auf Gewissensgründe beruft, um seinen militärischen Aufgaben zu entgehen, muss sich dort unbequeme Fragen stellen lassen.
Für die Bundeswehr ist die Entwicklung so oder so schmerzlich – auch wenn sich die KDV-Zahlen nicht weiter erhöhen sollten. Was den Effekt auf die Truppenstärke angeht, müssen zu den Verweigererzahlen de facto auch die Zeitsoldaten hinzugezählt werden, die aufgrund der Kriegssituation in Europa ihre Dienstzeit nicht verlängern. Zu allem Überfluss gehen wie gesehen seit Beginn des Ukraine-Krieges auch noch die Bewerberzahlen zurück, daher fällt jeder vermeidbare Abgang noch mehr ins Gewicht. Und dies trotz vielfältiger Werbeaktionen der Streitkräfte auf allen Kanälen. Immerhin soll die Armee von jetzt 183.000 bis 2031 auf 203.000 Soldaten aufwachsen. Händeringend wird nach qualifiziertem Personal gesucht, die demografisch bedingt zurückgehenden Jahrgangsstärken sind zusätzliche Treiber des Konkurrenzkampfes auf dem Arbeitsmarkt. Sollte sich dieser Trend verfestigen, wird die vielgerühmte Zeitenwende schlicht verpuffen. Geld allein reicht eben nicht.
Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an
Eine Reihe von Ursachen dürfte ausschlaggebend sein. Die verstärkte Werbung um Rekruten seit Ministerin von der Leyen mit den Schlagworten Attraktivität des Soldatenberufes und moderner Arbeitgeber lockte in Teilen offensichtlich die falschen Leute an. Soldatenstuben mit Flachbildfernsehern und Kühlschränken, geregelte 41-Stunden-Woche mit Teilzeitmöglichkeiten und Kinderbetreuung sind offenkundig falsche Fährten, auf die junge Menschen gesetzt werden. In Kriegszeiten wird deutlich, dass der Soldatenberuf eben kein Beruf ist wie jeder andere. Er ist nicht in Teilzeit und nicht in Heimarbeit zu leisten. Womit nichts gegen notwendige Erleichterungen im Kasernendienst und für junge Familien oder bei langen Abwesenheiten gesagt werden soll. Aber im Kern stellen sich für Soldaten eben ganz andere, im Kern existenzielle Fragen, die offen thematisiert werden müssen. Am Ende ist dem auch nicht auszuweichen.
Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an. Die Annahme funktioniert offensichtlich nicht mehr, dass sich bei zunehmendem Bedrohungsgefühl die Menschen zusammenschließen und ihr Land verteidigen. Gespaltenes Bewusstsein könnte man dies nennen. Eine freiheitliche Gesellschaft ist auch nur dann überlebensfähig, wenn deren Bürger im Extremfall bereit sind, Leben und Gesundheit für das Gemeinwesen einzusetzen. Genau diese Debatte müsste angestoßen werden, und zwar von den Repräsentanten unseres Staates. Die Zeitenwende bleibt andernfalls ein Torso ohne Unterleib.
Allgemeine Dienstpflicht
Soldaten zu gewinnen, die nicht beim geringsten Sturm von Bord gehen, verlangt zu aller erst Ehrlichkeit in der Werbung. Zu falschen Werbeversprechungen: siehe oben. Es wird aber mehr und mehr deutlich, dass in Anbetracht der gesellschaftlichen Situation nur mit Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht eine durchgreifende Verbesserung der Personallage zu erwarten wäre. Die jungen Menschen beiderlei Geschlechts müssen wieder lernen, dass zum Leben in einer Gesellschaft auch Pflichten gehören.
Eine allgemeine Dienstpflicht verspricht nicht nur einen Startvorteil für das Berufsleben, sondern insbesondere auch Vorteile für gesellschaftliche Bereiche, die in Anbetracht der demographischen Probleme zunehmend zu kurz kommen. Eine Dienstpflicht für junge Menschen ist daher für Blaulichtdienste, soziale und Umwelt-Aufgaben, wie eben auch die äußere Sicherheit unseres Landes zu fordern. Diese Pflicht zur Sicherung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben würde viele zur Bundeswehr bringen und ihnen den Wert des militärischen Dienstes vermitteln. Im Übrigen ergäbe diese Pflicht insbesondere für Migranten einen entscheidenden Beitrag zur Integration.
Die äußere Sicherheit unseres Landes wurde seit der Jahrtausendwende sträflich vernachlässigt. Unsere Armee wurde als Stiefkind behandelt, das erhebliche Ressourcen verschlingt, aber zum Bestand des Staates nichts Wesentliches beiträgt. Es ist höchste Zeit, die Prioritäten wieder dorthin zu legen, wo es um das Überleben unserer Gesellschaft geht.