Für Lars Klingbeil steht fest, wo die größten Gefahren der Demokratie lauern. Sicher nicht in Berlin, das mustergültig von seiner Parteifreundin Franziska Giffey besprochen wird. Wohl aber in Sachsen und Thüringen, wo an Silvester unter „lauten Sieg-Heil-Rufen“ randaliert worden sei. Das behauptete Klingbeil nun auf einer Pressekonferenz – woanders als in Berlin – entgegen der Sachlage und ohne Rückfrage bei den örtlichen Behörden. Davon ist angesichts des faktenbefreiten Vortrags des Parteivorsitzenden auszugehen. Einige Zeitungsmeldungen wird er sich eilig zusammensuchen lassen haben, um daraus dann eine Gegengeschichte zur Migrantengewalt in deutschen Großstädten zu stricken – und dabei ein paar Städte in Sachsen und Thüringen an den Pranger zu stellen.
Dabei hatte TE schon am Montag durch eigene Recherchen und eine Anfrage bei der Polizeidirektion Leipzig erfahren, dass die Einordnung der Bornaer Silvestervorfälle als rechtsextrem ziemlich an den Haaren herbeigezogen ist. Es handelte sich um Randalen mittleren Ausmaßes – zumal im Vergleich mit Brennpunkten wie Neukölln. Die „Verdachtsmomente“, die auf eine rechte Ausrichtung hindeuten sollen, sind in Borna ziemlich schütter. Als Tatverdächtige wurden laut Presseberichten zwei 19-jährige Deutsche festgestellt, was eher auf jugendlichen Übermut hindeutet.
In Berlin wiederholte es Klingbeil mantra-artig: „Die größte Gefahr für die Demokratie kommt von rechts außen.“ Ob es dabei um Brasilien oder Borna in Sachsen geht, ist eigentlich gleichgültig. Die Verhältnisse werden schon irgendwie vergleichbar sein, jedenfalls aus SPD-Perspektive. Mit Brasilien und dem „Putsch“ der Bolsonaro-Anhänger fing Klingbeil an, als er am Montag zu aktuellen Themen Stellung nahm, neben ihm die Berliner Regierende Bürgermeisterin.
Von ihrem einstigen Förderer, der Neukölln-Legende Heinz Buschkowsky (auch noch SPD), wird Franziska Giffey allerdings nicht mehr ganz für voll genommen – vor allem wegen ihrer hinhaltenden Antwort auf die Berliner Silvesternacht. Und auch auf dieses aktuelle Thema musste der SPD-Vorsitzende zu sprechen kommen, wenn auch widerwillig. Wer will schon von mehr als 3.000 erfolgreichen (plus ebenso vielen abgebrochenen) Notrufen reden in einer Stadt, die nun seit Jahrzehnten von Sozialdemokraten mitregiert wird? Parteifreundin Giffey hatte angeblich genau die richtigen Worte dazu gefunden – im Nachhinein. Für die Frontstadt Berlin hält Klingbeil einen Mittelweg für geeignet: „lösungsorientierte Antworten“, irgendwo zwischen harter und ausgestreckter Hand für die Täter, die zu großen Teilen aus islamisch geprägten Ländern stammten – auch wenn die Berliner Polizei ihre Zählweise inzwischen verändern musste, wobei ihr zwei Drittel der Tatverdächtigen abhandenkamen.
Doch das ist ein zu einfaches Rezept, das nur in der Berliner Blase trägt. Es ist eine geradezu skandalöse Art der Instrumentalisierung der Lebenswirklichkeit zu Parteizwecken, ohne doch überhaupt genau hingeschaut zu haben. Man nehme einen vereinzelten Zwischenfall in einer sächsischen oder thüringischen Stadt und skandalisiere ihn unter Verwendung des eingeschliffenen Vokabulars von „Rechtsextremismus“ bis hin zu „Sieg-Heil-Rufen“. Die Sozialdemokraten werden schon verstehen, was gemeint ist. Ganz egal, was wirklich passiert ist und unter welchen Umständen.
Die ausgestreckte Hand der SPD gilt nicht für jeden
Die einzigen Anhaltspunkte für rechtes Gedankengut, die der Leipziger Polizei bis jetzt vorliegen, sind zwei Online-Kommentare, von denen der eine von einer Wahlkampfhelferin des SPD-Oberbürgermeisters von Borna stammt und inzwischen wieder gelöscht wurde. Nur in diesem Kommentar war in einer Formulierung von gewissen „Idioten“ die Rede, die in der Silvesternacht nichts Besseres zu tun hätten, „als mit ‚Sieg…‘ und Knaller durch die Stadt zu marschieren“. Ob das Ganze jetzt oder irgendwann anders passiert war, ob es diese Sieg-Heil-Rufe nun real gegeben hat oder sie nur eine Vorstellung der Autorin sind, bleibt unklar.
Aus Görlitz und Hildburghausen gibt es bisher gar keine genaueren Berichte, die auf eine irgendwie „rechte“ Ausrichtung der dort auffällig gewordenen Personen hindeuten. Das saugt sich Klingbeil schlicht aus den Fingern. Auch hier wird er nirgends angerufen und die zusammenphantasierten „Informationen“ überprüft haben. Nichts stützt seine These, dass die größte Gefahr für die Demokratie in Borna, Görlitz oder Hildburghausen wohnt und von „rechts außen“ kommt.
Deutlich wird so nur die tiefe Entfremdung zwischen der SPD und den Menschen in Borna und Hildburghausen, vielleicht in Sachsen und Thüringen überhaupt. Schade um den demokratischen Diskurs, auch um den Mittelweg. Die ausgestreckte Hand der SPD gilt eben nicht für jeden, scheint jedenfalls nicht allen deutschen Bürgern zu gelten.