Die gegenwärtige Bundesregierung wird oft heftig kritisiert und offenbar, das zeigen neueste Umfragen, nimmt das Vertrauen der sonst ja sehr folgsamen und vertrauensseligen Deutschen in die Regierung auch rasant ab. Das ist sehr zu bedauern und in vieler Hinsicht auch ganz ungerecht, wenn nicht gar staatszersetzend, wie uns der Verfassungsschutz warnen wird, denn zumindest in einer Hinsicht übertrifft diese Regierung alle ihrer Vorgänger: Sie besitzt einen ausgeprägten Sinn für Humor.
Einen Sinn für Selbstironie und einen Hang zur Realsatire verrät aber auch die Ernennung von Claudia Roth zur Kulturstaatsministerin. Leider hat sie anders als Frau Lambrecht keinen Milliardenetat zu verwalten, sie muss also auf andere Weise als die Verteidigungsministerin die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen. Das freilich gelingt ihr dann doch gelegentlich, so jüngst mit dem Vorschlag, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umzubenennen. Sicher versuchte sie damit auch Anschluss zu gewinnen an Frau Baerbock, die im Auswärtigen Amt bereits Bismarck entsorgen will, einen anerkannten Reaktionär, Bösewicht und finsteren borussischen Machtpolitiker, der sich angeblich im kleinen Kreis in den 1880er Jahren auch sehr abfällig über das damals noch ganz neue und, wie manche meinen, sogar von der englischen Königin Viktoria vertretene Konzept der feministischen Außenpolitik geäußert haben soll.
Allerdings, die Umbenennung eines Konferenzsaales und das Abhängen eines Bildes, das sind vergleichsweise Banalitäten. Die Stiftung preußischer Kulturbesitz verwaltet immerhin weltbekannte Kunstsammlungen und das alte Preußische Geheime Staatsarchiv. Im Vergleich zur Entsorgung Bismarcks wäre eine Umbenennung da schon ein echter Paukenschlag, wobei man freilich auf den neuen Namen gespannt sein kann. Der Name „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ ist ja leider schon vergeben, sonst würde er sich sicher anbieten und Berlin-Brandenburgische Kulturstiftung klänge ein wenig trivial, zu wenig programmatisch.
Die Bundesrepublik tat sich mit dem preußischen Erbe immer schwer
Wie man einräumen muss, tat sich schon die alte, Bonner Bundesrepublik mit dem preußischen historischen und kulturellen Erbe recht schwer. Die bestimmenden Kräfte in der Bonner Republik waren ja gerade diejenigen, die in Preußen zumindest vor 1918 marginalisiert worden waren, der politische Katholizismus, der das eigentliche Fundament der CDU besonders in den Anfangsjahren der Bundesrepublik darstellte, und die Sozialdemokratie, wobei man freilich nicht vergessen darf, dass zwischen 1919 und 1932 der Freistaat Preußen fast durchgehend von der SPD regiert wurde.
Natürlich ist die Erinnerung an Preußen in unterschiedlichster Weise durch historische Mythen geprägt. Für die negativen stehen zum Beispiel die Schlagworte Untertanengeist, Militarismus und Junkertum, für die positiven Disziplin, Fleiß, eine effiziente und korruptionsfreie Verwaltung und „Mehr sein als Scheinen“, aber auch konfessionelle Toleranz. Beide Mythen, die negative und die positive Geschichtserzählung, haben erhebliche Schwachstellen. Wie etwa der amerikanische Historiker William Hagen gezeigt hat, waren die erbuntertänigen Bauern der Mark Brandenburg im 18. Jahrhunderts, besonders nach 1763 durchaus bereit, sich vor Gericht auf Konflikte mit den Gutsherren einzulassen und konnten diese unter Umständen, wenn ein ganzes Dorf zusammenlegte, auch finanziell ruinieren. Fügsame Untertanen waren diese Bauern nicht unbedingt.
Umgekehrt muss aber auch die preußische Toleranz mit Skepsis betrachtet werden, denn mit der Aufnahme der vertriebenen Hugenotten in den 1680er Jahren versuchte der Große Kurfürst gerade jene konfessionelle Minderheit zu stärken, der er selber angehörte, und im Übrigen ließ auch das Reichsrecht den Hohenzollern nach 1648 kaum eine andere Wahl, als Besitzstände der Lutheraner und in einigen Provinzen auch die der katholischen Kirche, wenn auch zum Teil widerwillig zu respektieren. Ein Zeichen toleranter Gesinnung war das nicht unbedingt. Das mochte sich mit Friedrich II. d. Gr. ändern, der freilich Agnostiker war, und dem daher die konfessionellen Unterschiede eher gleichgültig waren, auch wenn auf einer persönlicher Ebene seine Abneigungen gegen den Katholizismus sicher größer als gegen den Protestantismus war.
Preußen war eine europäische Großmacht und Keim des deutschen Nationalstaates – das macht seine Geschichte heute inakzeptabel
Aber das sind Details, die Frau Roth gänzlich unbekannt sein dürften; würde sie mit ihnen konfrontiert, würde sie sie als irrelevant vom Tisch wischen. Das eigentliche Problem, das die preußische Geschichte für die heutige politische Klasse darstellt, ist ein ganz anderes: Brandenburg war das einzige deutsche Territorialfürstentum, dem es unter seinen Herrschern gelang, zur europäischen Großmacht aufzusteigen. Sicher, die bayerischen Wittelsbacher und zum Teil auch die sächsischen Wettiner waren lange ähnlich ehrgeizig wie die Hohenzollern, und besaßen anfänglich eine bessere Ausgangsposition, aber namentlich die Wittelsbacher scheiterten mit ihren Versuchen, sich im Bündnis mit Frankreich in der Konkurrenz zum Haus Habsburg als bedeutende europäische Dynastie zu etablieren, immer wieder.
Dass dieser Aufstieg zumindest phasenweise wie nach 1740 und erneut zwischen 1864 und 1871 mit einer rücksichtslosen Machtpolitik einherging, ist nicht zu leugnen, aber das Gleiche galt natürlich für die etablierten Großmächte wie Frankreich oder England, aber auch für einen anderen Aufsteiger, Russland. Nur, was man in Deutschland nach 1945 bereit war, den anderen Großmächten nachzusehen, bis hin zur imperialen Expansion außerhalb Europas, das vergab man Preußen nicht, weil man eine Projektionsfläche für die Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte im frühen 20. Jahrhunderts und ihre vermeintlichen historischen Wurzeln suchte. Soweit die Bonner Republik sich überhaupt auf eine weiter zurückreichende historische Tradition in ihrem Selbstverständnis bezog, war es eher die Geschichte des „Dritten Deutschlands“, der mittleren und kleineren Territorien, die zwischen Preußen und der Habsburgermonarchie standen. Hier schien eine beschauliche Gemütlichkeit sich mit kulturellem Glanz und relativem Wohlstand zu verbinden.
Die Realität sah natürlich in Wirklichkeit im späten 17. und im 18. Jahrhundert oft anders aus, zumal auch vielen mindermächtigen Dynastien militärische Ambitionen und machtpolitischer Ehrgeiz keineswegs fehlte, aber immerhin konnte man Fürstentümern wie Hessen-Kassel oder gar Reuß-Greiz ältere Linie – das erst in jüngster Zeit durch den gefährlichen Reußenputsch in Misskredit geriet – nicht vorwerfen, nach der Vorherrschaft in Europa zu streben, und von daher waren sie ein ideales Vorbild für die Bonner Republik, die bewusst als machtpolitisch harmlos erscheinen wollte und sich daher politisch auch immer kleiner machte als sie war.
Natürlich können der ruhmsüchtige Hasardeur Friedrich d. Gr. oder der Machtpolitiker Bismarck keine Vorbilder für heutige deutsche Außenpolitik sein, das sollte jedem klar sein. Aber ebenso richtig ist, dass die pauschale Ablehnung Preußens und seines Erbes oft mit einem expliziten Pazifismus oder zumindest Anti-Bellizismus einhergeht. Man sieht die Bundesrepublik sicherheitspolitisch eben doch eher als erfreulich machtlosen Duodezstaat und genießt die eigene Ohnmacht geradezu.
Profitieren von der Verfestigung des antipreußischen Geschichtsbildes werden auch Bundesländer wie Berlin. Gerade weil es mal preußische Hauptstadt war, stellt Berlin den perfekten Gegenentwurf zu allem dar, was man mit Preußen irgendwie assoziieren könnte. Chaos und administrative Ineffizienz, aber auch die ständige institutionalisierte Revolte gegen den Staat und seine Vertreter sind hier mit Erfolg zu einer höheren Kunst entwickelt worden, und in einer solchen Stadt hat dann vielleicht eine Stiftung, deren Name an Preußen erinnert, wohl wirklich keinen Platz mehr, wenn der Name nicht einfach nur noch als Vorwurf an die Gegenwart oder als reiner Witz wirken soll. Von daher liegt dann Frau Roth mit ihrem „Weg damit“, vielleicht doch nicht ganz falsch.