Die taz tanzte bekanntlich bereits vor dem Tod Benedikts XVI. auf dessen Grab – indem sie den Nachruf auf den „Konservativen“ bereits vorab versehentlich veröffentlichte. Verglichen mit dem, was in den sozialen Medien geschah, war dieser Fauxpas noch fast als verzeihlich zu werten, doch gelten bekanntlich für anonyme Twitter-Accounts und Facebook-Profile nicht dieselben Ansprüche wie für Journalisten – auch, wenn man meinen sollte, dass ungeschriebene Regeln zu Anstand und Respekt für alle Individuen zu gelten hätten.
Wurde die Berichterstattung des ZDF in vielerlei Punkten schon nicht dem Ereignis gerecht, so sorgte an dem Tag ein ZDF-Mitarbeiter für einen regelrechten Eklat in den sozialen Medien. Tristan Herold vom ZDF-Magazin setzte auf Twitter einen Kommentar ab, der nicht nur Gläubige empörte. Zitat: „Haha. Leute kennt ihr das noch, als man das Pausenbrot über die Sommerferien in der Tasche vergessen hat.“ Das war die zwar in den sozialen Medien bekannteste Spitze, doch den Gipfel erreichte das LGBT-freundliche Portal queer.de. Der dortige Nachruf („Einer der größten queerfeindlichen Hetzer“) war auf einem solchen Niveau verfasst, dass die Polizei mittlerweile wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ermittelt.
Neben diesen offensichtlichen Beleidigungen existierte eine ganze Reihe von Beiträgen, die Benedikt mehr oder weniger noch im Zuge der Trauerfeiern nicht nur „richtig einordneten“, sondern das Ziel hatten, dessen Lebensleistung zu schmälern und ihn menschlich herabzuwürdigen. Der Focus etwa hielt es für nötig, das Wort eines 19-jährigen Kellners als Aufhänger zu nehmen, um zu deklarieren, dass „niemand“ in Italien den Papa emeritus gemocht hätte. Wenn eine Zeitung titelt „19-Jähriger kritisiert Steuerpolitik der Bundesregierung“, dann ist es im besten Fall Satire, wenn sich dieselbe Person über den verblichenen Pontifex äußert, dann ist er eine Quelle aus erster Hand.
Die Tagesschau ließ es sich indes nicht nehmen, wie viele Medien den Rückzug der Römisch-Katholischen Kirche aus der Schwangerschaftskonfliktberatung zu kritisieren – und vollzog den Spagat, Benedikt damit indirekt für Abtreibungen verantwortlich zu machen, weil er die Kirche nicht „kompromittieren“ wollte. Der Spiegel warnte indes vor „Ratzingers finstere Erben“. Womöglich sorgten Artikel wie diese dafür, dass zumindest beim Deutschlandfunk sich bei einem Verantwortlichen das Gewissen regte, da man dort tatsächlich anlässlich des Requiems das Thema aufnahm, ob man Tote verunglimpfen dürfe; wenn auch die Überschrift („Nur Gutes über den verstorbenen Papst Benedikt?“) freilich insinuierte, dass es noch viel zu viel des Lobes für den Papa emeritus gab.
Es sind dies die spannenden Informationen des Tages gewesen, die aber angesichts der Unwissenheit und des Desinteresses der Kommentare völlig verloren gingen, da diese das ablaufende Ritual für eine Mischung aus verarmter italienischer Royal-Zeremonie und veraltetem Hokuspokus hielten. Dass das Ereignis Hunderte Millionen Menschen auf dem Planeten betraf und sich einige mehr als nur symbolische Statements der Weltpolitik entluden, ist nachrangig, wenn man zum wiederholten Mal die eigene zeitgeistige Borniertheit als Moderator ausspielen muss.
Es gehörte an diesem Tag zu den vielsagenden Details, dass das säkulare Italien, das einst aus Liberalismus, Freimaurerei und Laizismus geboren wurde, Trauerbeflaggung vorschrieb und Staatspräsident Sergio Mattarella wie Ministerprädentin Giorgia Meloni den toten Papst damit öffentlich deutlicher würdigten als die Vatikanstadt. Die „Generation Benedikt“ kontrolliert vielleicht nicht die Kurie und die Medien, sitzt dafür jedoch an ganz anderen Schalthebeln. Währenddessen soll offenbar von anderer Seite das Bild gepflegt werden, es habe sich bei Benedikt um einen unbeliebten und nachrangigen Papst gehandelt.
Papst Franziskus, der seit seiner Dickdarm-Operation sichtlich gealtert ist, und dessen anfangs als vorübergehend eingestufte Rollstuhlbenutzung zur Dauererscheinung geworden ist, soll den eigenen Rücktritt bisher verschoben haben, weil er keine zwei „Papa emeriti“ wollte. Im März jährt sich seine Wahl zum Pontifex zum 10. Mal. In italienischen Zeitungen überschlagen sich die Spekulationen, ob er in absehbarer Zeit zurücktritt; auch in deutschsprachigen Medien, etwa der FAZ, sieht man mit dem Ende des „Doppelpapsttums“ auch das Pontifikat des aktuellen Nachfolgers Petri sich dem Ende zuneigen.
Nun stellt sich heraus, dass Benedikt nicht nur für das Abendland, sondern auch für Franziskus ein Katechon war. Die Konflikte und Widersprüche, die sich in den letzten Jahren innerhalb der Katholischen Kirche gebildet haben, brachen offenbar auch deswegen nicht auf, weil man einerseits aus Rücksicht auf Benedikt nicht zum Frontalangriff überging und andererseits auch die konservativen Katholiken mit Ratzinger eine Orientierungsgestalt besaßen, die der Beruhigung diente.
Dieser Schutzschirm ist nun fort. Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein droht, mit einem Enthüllungsbuch Franziskus direkt anzugreifen; Ausschnitte des bald erscheinenden Bandes sind bereits in italienischen Zeitungen abgedruckt worden und kursieren als Übersetzungen. Demnach herrsche Franziskus im Vatikan, indem er Mitarbeiter wie ihn gedemütigt habe, Ratzinger habe zudem Entscheidungen – insbesondere die Ächtung der „Alten Messe“ durch das Motu Proprio Traditionis Custodes – nicht gutgeheißen.
Die „zweite Phase“ des Franziskus-Pontifikats verspricht damit, spannend zu werden. Nicht nur Benedikt-Anhänger dürften sich noch nach dem Papa emeritus zurücksehnen.