Kinderfernsehen vor dem 8. Januar 1973 war ein erwachsenes Fernsehen, das sich zu Kindern herabließ. Etwa wenn Luis Trenker vor die Kamera trat und endlos lange Geschichten von früher erzählte. Nicht die spannenden über seine Verstrickungen in der NS-Zeit. Sondern die langweiligen darüber, wie er Städter auf die Berge geführt hat.
Die Amerikaner wagten bereits am 10. November 1969 ein spezifischer auf Kinder zugeschnittenes Fernsehen: bunt, fröhlich und auch etwas anarchisch. Die Sesame Street spielte in den Hinterhöfen New Yorks. Mit Oscar war ein Muppet, eine Puppe, zu sehen, die Kinder ansprach, vor denen in Deutschland die Eltern ihren Nachwuchs warnten. Einer, der buchstäblich in der Mülltonne lebte.
So ist es ein wenig der Sehnsucht nach Melancholie gewidmet, wenn die ARD an diesem Sonntag den Geburtstag der deutschen Sesamstraße groß feiert. Denn eigentlich war die amerikanische Version, nicht synchronisiert schon ab 1971 in den dritten Programmen zu sehen und eine eigene deutsche Rahmenhandlung produzierte der NDR erst ab 1976. Was an diesem Sonntag gefeiert wird, war eine Zwitterkonstruktion: synchronisierte amerikanische Beiträge, versehen mit nur wenigen deutschen Einspielern.
So sehr die Kinder die bunte Welt der Sesamstraße liebten, so sehr stieß die Sendung im noch konservativen Deutschland auf Gegenwind. Eltern beschwerten sich bei NDR und ARD, weil sie den Untergang des Abendlandes fürchteten. Manche Sender verweigerten sich dem Treiben: der Bayerische Rundfunk gänzlich. Der Saarländische Rundfunk und die Sender des heutigen SWR zeigten die Sesamstraße erst später.
Die deutsche Sesamstraße bestand neben der Rahmenhandlung aus einigen Einspielern, etwa über die Produktion bestimmter Waren und aus Sketchen. Vor allem aber ging es um die Puppen und darum, den Kindern spielerisch etwas beizubringen. Zum Beispiel durch Graf Zahl, der den Kleinen seine Begeisterung fürs Zählen vermittelt. Oder die Figur des Schlemihl: Ein dubioser Straßenhändler, der Buchstaben im Angebot hatte. Legendär wurden Dialoge a la: „Psssst… Ich verkauef ein E?“ „Ein E!“ „Nicht so laut …“ Wenig Sensibilität bewies der NDR bei der Übersetzung des Namens. Aus dem amerikanischen Lefty wurde der deutsche Schlemihl. Ein jüdischer Begriff für einen dubiosen Straßenhändler…
Die bekanntesten Figuren der Sesamstraße sind in Deutschland mutmaßlich Ernie und Bert. Zwei Männer, die zusammenleben. Bis heute gab es immer wieder Spekulationen, ob die beiden eine homosexuelle Beziehung haben. Liberale Menschen sahen das eher humorvoll, linke wie rechte Sittenwächter konnten sich an dem Thema abarbeiten. Wobei Moraldebatten die Sesamstraße bis heute verfolgen: Als die Sängerin Katy Perry eine pädagogische Version ihres Hits „You’re up …“ sang, stießen sich manche an ihrem kurzen Rock. Manch Erwachsener hätte vermutlich gerne mit Elmo getauscht. Die in den USA mutmaßlich beliebteste Figur reichte Perry bis zum Knie – ihr Rock nicht.
Dabei traten in der Sesamstraße einige der größten Weltstars auf: darunter Präsidenten-Gattin Michelle Obama, Stevie Wonder, Johnny Cash oder Whoopi Goldberg. Auch deutsche Stars waren dabei wie Jan Delay oder Herbert Grönemeyer. Für die Stars war der Auftritt meist Ehrensache, manchen gelang eine denkwürdig sympathische Performance. Etwa Norah Jones. Die Jazzsängerin machte mit Elmo aus ihrem Hit „I don’t know why“ ein „I don’t know Y“. Das war zum einen herzergreifend süß und vermittelte den Kindern gleichzeitig den Buchstaben Y, der im Englischen wie das Wort „Why“ klingt.
Wobei die Sesamstraße ihre eigenen Hits produziert hat. Allen voran der fiese Ohrwurm „Manamana“, den man – einmal gehört – erst wieder aus seinem Kopf rauskriegen muss. Oder Ernies „Quitscheentchen“-Song. Zum geflügelten Wort wurde sein „Hätt‘ ich dich heut‘ erwartet, hätt‘ ich Kuchen gebackt“-Hit. Herzallerliebst. Und, Hand aufs Herz. Wer ihm da zuhört, der möchte gar nicht wissen, was passiert, wenn Bert hinter beiden die Tür schließt.