In England und Wales gehen die Diskussionen zum Stichwort „gender care“ weiter. So umschreiben die Befürworter jene medizinischen Maßnahmen und Eingriffe, denen bis vor kurzem auch minderjährige Patienten, die sich für eine Geschlechtsumwandlung entschieden hatten, unterworfen wurden, also vor allem Pubertätsblocker und dann kurz nach dem 18. Geburtstags – vielleicht auch davor, wenn die Eltern zustimmten – der Einstieg in die geschlechtsanpassenden Operationen, die sich mitunter hinziehen können. Zweit- und Drittänderungen am selben Körperteil sind laut Expertenaussagen keine Seltenheit. Nicht immer ist das Ergebnis erfreulich.
Das sogenannte „detransitioning“, die Rückabwicklung einer Geschlechtsumwandlung (so weit möglich), kam übrigens früh in Satire und Popkultur an, was vielleicht doch ein Zeichen für die Relevanz dieses Themas ist. Das zeigt auch eine Karikatur aus dem konservativen Wochenmagazin Spectator, in der schon vor einigen Jahren die soundsovielte Um-Operation in einem Dialog thematisiert wurde: Wie denn die geschlechtsangleichende Operation verlaufen sei, fragt eine Stimme am Telephon. „Ach, grässlich, wie jedes Mal“, lautet die entnervte Antwort der Person mittleren Alters.
Inzwischen gibt es auch dokumentarische Photoprojekte über – vor allem junge weibliche – „Zurückwechsler“, die sich keineswegs in der besten aller Welten wiederfinden und inzwischen daran arbeiten, ihren „Körper genauso anzunehmen“, wie er ist. In neueren Romanen erscheint die Vaterschaft einer „Transfrau“ – also eines Mannes, der eine Zeit lang Hormone nahm – als kleines Wunder (Detransition, Baby, 2021). Die deutsche Kritik bejubelte das Werk als „Befreiung von der alten Zweigeschlechtlichkeit“ (Süddeutsche Zeitung) und übersah doch, dass Fortpflanzung und biologische Elternschaft eigentlich nicht Eigenschaften der neuen Tausend-Genderwelt sind.
Neue NHS-Politik: Auch mentale Ursachen behandeln
Kritikpunkte wie dieser haben im vergangenen Jahr zu einem Kurswechsel des nationalen Gesundheitssystems NHS geführt, das die Behandlungen bis dato in einer Klinikabteilung im Londoner Tavistock Centre bündelt. Der Name der Abteilung kündet von undeutlichen bis postmodernen Vorstellungen. Ins Deutsche gebracht, hieße sie „Dienst für die Entwicklung der Geschlechtsidentität“. Im englischen Neusprech geht das flüssiger von den Lippen und heißt „Gender Identity Development Service“, kurz GIDS. Der Klinikteil soll noch in diesem Frühjahr geschlossen werden.
Danach sollen Kinder- und Jugendärzte in zwei normalen NHS-Kliniken die ganze Palette möglicher Gründe für Geschlechtsdysphorie in Betracht ziehen und dabei auch an mentale und seelische Ursachen wie etwa Depressionen denken. Dem zum Trotze vergibt aber auch der „Geschlechtsentwicklungsdienst“ der Tavistock-Klinik noch immer Termine. Man arbeitet so nicht zuletzt die nicht unerhebliche Warteliste ab. Das mag man paradox finden. Aber natürlich ist auch der NHS-Gender-Service an die veränderten Regeln gebunden.
Hinter der Entscheidung zur Schließung der Tavistock-Spezialklinik stehen weitreichende Zweifel am Denksystem der Transgender-Ideologie. Unter anderem erkennt der NHS nun an, dass Jugendliche mit dem Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung in vielen Fällen nur eine „vorübergehende Phase“ durchmachen. Pubertätsblocker sollen daher nicht mehr an Minderjährige vergeben werden. Allerdings gibt es eine Hintertür für klinische Versuche unter strenger Aufsicht.
Mehr als 8.000 minderjährige Briten warten auf Behandlung durch NHS und private Anbieter
Auch generell hat sich das NHS gegen die Fortsetzung des sogenannten „gender-affirmativen“ Therapieansatzes entschieden – das heißt, die Annahme, ein Kind oder Jugendlicher habe prinzipiell „recht“, wenn er dysphorisch ist und glaubt, im „falschen“ Körper zu leben, bildet nicht mehr die Grundlage der Behandlung. In verschiedenen NGOs organisierte Transgender-Aktivisten hatten Einfluss auf Ärzte und Patienten genommen. Der Einsatz der Aktivisten galt als probates Mittel, um den geschlechtsdysphorischen Kindern ein „sicheres Umfeld“ zu gewährleisten – doch Zweifel erhoben sich, ob es „sicher“ für Kinder ist, wenn jeder ihrer Wünsche zu nicht mehr rückgängig zu machenden quasi-medizinischen Behandlungen führt.
Erstaunlich ist der Umfang der offiziellen Warteliste. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, gibt es sicher 8.000 Jugendliche, die auf eine geschlechtsumwandelnde Behandlung warten. Gemäß Zahlen des GIDS wurden im Geschäftsjahr, das im März 2022 endete, 5.234 Minderjährige an der Gender-Abteilung behandelt. Im Juli des vergangenen Jahres war die Warteliste bereits auf 7.696 Einträge angewachsen. Das bedeutete einen Zuwachs um zwei Drittel seit dem Oktober 2020, als „nur“ 4.600 junge Patienten eine geschlechtsanpassende Behandlung wünschten.
Aber das könnte noch nicht das ganz Bild sein. Immer mehr Minderjährige wenden sich nicht mehr an den NHS, sondern direkt an private Kliniken mit ihrem Wandlungswunsch. Zum Beispiel an eine Onlineklinik mit Hauptsitz in Singapur, die derzeit 800 Jugendliche in ihr Programm aufgenommen hat. Zusammen mit der NHS-Warteliste ergibt sich eine Zahl von vermutlich weit über 8.000 Möchtegern-Patienten.
In Deutschland kaum offizielle Zahlen, dafür Empfehlungen für Pubertätsblocker
Für Deutschland werden Zahlen über minderjährige Patienten kaum von offizieller Seite veröffentlicht. Dafür empfiehlt das Familienministerium via dem eigenen „Regenportal“ die Verschreibung von Pubertätsblockern – mit der Aussicht auf eine spätere Operation. In der Schweiz waren die Zahlen gemäß einer christlichdemokratischen Parlamentsanfrage von 2020 gering, aber nicht ohne Dynamik. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203051 Insbesondere die chirurgischen Behandlungen sind stark angewachsen. Lagen sie in den Jahren vor 2014 bei Null, so stiegen sie bis 2018 auf eine niedrige zweistellige Zahl an. In immerhin 14 Fällen wurden also bereits minderjährige Patienten mit Geschlechtsdysphorie operiert.
In Deutschland gab es 2020 laut dem Portal Statista rund 160 chirurgische Eingriffe an Minderjährigen (7,6 Prozent aller Fälle). Die Mehrzahl der insgesamt 2.155 Eingriffe fand demnach an Personen von 20 bis unter 30 Jahren statt. Seit 2015 haben sich die chirurgischen Operationen in diesem Bereich fast verdoppelt. Auch bei den Minderjährigen ergibt sich eine deutliche Steigerung, geschätzt eine Verdreifachung.
2016 gab es sogar zwei Operationen an Patienten unter 15 Jahren. Für den schreibenden Datenjournalisten Mathias Brandt ist das alles weder Mode noch „Hype“, sondern natürlich Ausdruck einer befreiten gesellschaftlichen Diskussion. Er beruft sich dabei darauf, dass angeblich nur die Hälfte aller geschlechtsdysphorischen Menschen sich für das Skalpell entscheiden. Das bedeutet noch nicht, dass diese Entscheidungen für eine lebensverändernde Operation immer unproblematisch sind – was natürlich in gesteigertem Maße bei Minderjährigen gilt, deren Eltern die Entscheidung auch aus rechtlicher Sicht für sie treffen müssen.
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