Vor einigen Wochen trat die Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta Danielle Smith vor die Kameras, um für die autoritäre Corona-Politik der Vergangenheit um Verzeihung zu bitten. „Es tut mir zutiefst leid für jeden“, so Smith, „der aufgrund seines Impfstatus in unangemessener Weise diskriminiert wurde. Es tut mir sehr leid für jeden Regierungsangestellten, der wegen seines Impfstatus entlassen wurde, und ich heiße sie willkommen, wenn sie zurückkommen wollen.“
Die Regierungschefin blieb bis jetzt die einzige Politikerin, die ausdrücklich um Entschuldigung bat. In Deutschland klingen die Stellungnahmen der Verantwortlichen etwas anders. Kürzlich erklärte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer vor Bürgern, es sei tatsächlich zu Fehlern gekommen: „Es war nicht notwendig, Kindergärten und Schulen zuzumachen, die Bundesnotbremse war nicht notwendig. In dieser Zeit sind sehr, sehr viele Ungerechtigkeiten passiert, es gab sehr viele Entscheidungen, die man heute anders treffen würde. Das kann man nicht ungeschehen machen. Aber man kann offen darüber reden.“ Um dann zu empfehlen, jetzt „ein stückweit nach vorn zu leben, und vielleicht auch nicht so gegenseitig aufzurechnen“.
Ungerechtigkeiten ereigneten sich also im tiefsten Passiv, Entscheidungen fällte ein Kollektiv mit der Bezeichnung man. Und überhaupt sollte beispielsweise ein Krankenpfleger, der gekündigt wurde, weil er sich nicht impfen lassen wollte, den anonymen Verantwortlichen verzeihen, die ihm dann ihrerseits großzügig vergeben.
Der Reiz des von Sandra Kostner und Tanya Lieske herausgegebenen Bandes liegt darin, dass die Autoren aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die staatlichen Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre betrachten, aber auch das Verhalten von Medien und Wissenschaft.
Ohne Rückblicke lässt sich für Gegenwart und Zukunft nichts lernen. In der Textsammlung schreiben mehrere Philosophen und Historiker, zwei Ökonomen, ein Jurist, ein Pädagoge und ein Theologe. Ihre Themen fächern sie weit auf. Eine gern gebrauchte Formel von Politikern, die ähnlich wie Kretschmer argumentieren, lautet: Mit dem Wissen von heute würden sie nicht noch einmal so entscheiden, also Lockdowns verhängen oder Ungeimpften erklären, sie seien „raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ (Tobias Hans).
Der Philosoph Markus Riedenauer fragt deshalb in seinem Essay: Wie stand es um das Wissen von damals? „Wissen“, meint er, „wird zunehmend verwechselt mit Information und mit dem Zugriff auf Daten.“ Zur Wissenschaft gehörte es zumindest früher selbstverständlich, Erkenntnisse immer nur als vorläufig und als Teil des Ganzen zu nehmen, zu dem immer auch ein sehr ausgedehntes Gebiet des Nichtwissens gehört. Verbindet sich der unreflektierte Anspruch des Wissens auch noch mit dem Wahren und Guten, so Riedenauer, entstehe eine wissenschaftlich verbrämte Hybris: „Ein neuer moralischer Dogmatismus ersetzt die Kraft des besseren Arguments.“
Der Ökonom Robert Obermeier, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Passau, führt die Denkfallen vor, in die Politiker geraten, wenn sie jedes Risiko vermeiden wollen und sich dabei an Worst-Case-Szenarien orientieren. Andere Autoren untersuchen die Verengung der Debattenräume (zu beobachten ebenfalls nicht nur in der Auseinandersetzung über den Sinn der Maßnahmen als Teil der Corona-Politik).
Herausgeberin Sandra Kostner, Historikerin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch-Gmünd, prägt in ihrem Beitrag den Begriff des „gesellschaftlichen Long Covid“, also den Verwerfungen und Verirrungen im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, die vermutlich auch bleiben, wenn selbst in Deutschland die letzten Maßnahmen gegen das Virus verschwinden. Individuelle Freiheit verwandelt sich in diesem neuen autoritären Denken zur Bedrohung des Allgemeinwohls, als dessen Hüter sich Amtsinhaber verstehen, und Grundrechte zu milden Gaben, die der Staat zugesteht oder entzieht. „Diese Haltung befördert einen Staat“, so Kostner, „der in seinen Bürgern keine mündigen Individuen, sondern unmündige Schutzbefohlene sieht, deren Freiheitsgebrauch er durch detaillierte Verhaltensanweisungen reglementieren muss.“
Kostner, die auch zu den wichtigsten Köpfen des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ zählt, setzte sich in der Vergangenheit auch mit den Folgen der Identitätspolitik auseinander. Der Wissenschaftlerin, geboren 1974 in Calw, verdanken die Leser nicht nur diesen Sammelband, sondern auch das Hermann-Hesse-Zitat im Titel.
In einer idealen Welt würden sich sämtliche Bundes- und Landespolitiker und auch die meisten Medienmitarbeiter „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad“ zulegen, schon in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse.
Nach der Beteuerung in den vergangenen dreißig Monaten, die Maßnahmen der Corona-Politik seien alternativlos gewesen, begehen die meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes mit ihrer Vorwärts-und-Vergessen-Forderung gerade den nächsten Fehler nach exakt dem gleichen kollektiven Muster.
Kostner / Lieske (Herausgeber), Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung, ibidem, 206 Seiten, 24 €.