Tichys Einblick
Lenins Sieg

Die Gründung der Sowjetunion vor 100 Jahren war ein Triumph der Gewalt

Vor 100 Jahren wurde die UdSSR gegründet. Möglich wurde dies durch die Skrupellosigkeit radikaler Marxisten – und die Uneinigkeit ihrer Gegner. Manche der damaligen Vorgänge erinnern an die Gegenwart.

Ausstellung zum 100 Jahrestag des Gründung der UdSSR in Moskau, 30.12.2022

IMAGO / ITAR-TASS

„Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ – schon der Name steckte voller Unwahrheiten. Die UdSSR, wie sie in Deutschland abgekürzt wurde, war weder eine freiwillige „Union“ unabhängiger Staaten noch herrschten in ihr Arbeiter- und Soldatenräte („Sowjets“). Von „Republik“, also Volksherrschaft, konnte schon gar keine Rede sein, denn Lenin hatte die frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung bereits im Januar 1918 auseinanderjagen lassen. Am ehesten passte noch das Wort „sozialistisch“, weil getreu der Lehre von Karl Marx Unternehmer, Gutsbesitzer und Kirchen schon vor der Gründung der UdSSR mit brutaler Gewalt enteignet worden waren.

69 Jahre existierte der größte Staat der Welt, dessen Territorium vom fernöstlichen Wladiwostok bis zum westlichen Lwiw an der Grenze zu Polen reichte. 284 Millionen Menschen lebten dort 1989 und damit mehr als in den USA. Geographisch war die UdSSR die Fortsetzung des russischen Zarenreiches, das sich seine Kolonien nicht auf anderen Kontinenten gesucht, sondern durch Unterwerfung der Nachbarvölker geschaffen hatte. Doch an der Spitze des Vielvölkerstaates stand nicht mehr ein Monarch, sondern eine kleine Gruppe marxistischer Berufsrevolutionäre.

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Dass diese überhaupt an die Macht gelangen könnten, hatten viele für unmöglich gehalten. Unter dem Zaren hatten die Bolschewiki kaum eine Rolle gespielt. Erst der wirtschaftliche und militärische Zusammenbruch Russlands im Ersten Weltkrieg hatte ihnen 1917 – mit tatkräftiger Unterstützung des Deutschen Reiches – größeren Zulauf verschafft. Doch auch als sie am 7. November in Petrograd mit Hilfe ihrer Roten Garden die russische Regierung verhafteten und einen Rat der Volkskommissare bildeten, war es alles andere als sicher, dass der erste sozialistische Staat der Welt überleben würde.

Nach ihrem Putsch sahen sich die Bolschewiki zahlreichen Gegnern gegenüber. Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung bekamen sie weniger als elf Millionen der gut 48 Millionen Stimmen. Stärkste Partei wurden die Sozialrevolutionäre. Die Kommunisten hatten zwar Moskau und Petrograd unter ihre Kontrolle gebracht, doch es dauerte noch fünf Jahre, bis sie sich im gesamten Russischen Reich durchsetzen konnten.

Blutige Kämpfe lieferten sie sich nicht nur mit den Resten der ehemaligen Zarenarmee, den sogenannten „Weißen“. Auf Widerstand stießen sie auch bei den Bauern, die sich mit Waffengewalt gegen die Beschlagnahmung ihrer Lebensmittel wehrten ( „Grüne“). Gegen die neuen Machthaber erhoben sich zudem die Kosaken, die Krimtartaren und die Völker an den Rändern des Imperiums, die sich für unabhängig von Russland erklärten. Doch der von Leo Trotzki aus dem Boden gestampften Roten Armee gelang es, die abtrünnigen Gebiete nach und nach zurückzuerobern. Mit der Einnahme von Wladiwostok 1922 war das ehemalige Russische Reich größtenteils wiederhergestellt.

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Die Gründung der UdSSR war dann nur noch eine Formsache. Im Dezember 1922 beorderten die Bolschewiki die Vertreter ihrer Satellitenstaaten Weißrussland, Ukraine und Transkaukasische Föderation nach Moskau, um sich mit der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“  zu einem gemeinsamen Staat zu vereinen. „Die instabile internationale Lage und die Gefahr, dass es neue Angriffe geben könnte, machen die Gründung einer einheitlichen Front der sowjetischen Republiken mit Blick auf die kapitalistische Umgebung unentbehrlich“, hieß es in dem am 29. Dezember 1922 unterzeichneten Vertrag. Sein Absegnung durch den Ersten Allunionskongress der Sowjets erfolgte am nächsten Tag, weshalb dieser als Gründungtag der UdSSR gilt. 

Dass die radikalen Marxisten am Ende alle Widerstände überwinden konnten, hatte vor allem einen Grund: Ihre Bereitschaft, ohne jede Skrupel massenhaft Gewalt anzuwenden. Schon im Dezember 1917 gründeten sie die „Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ (Tscheka), die rigoros gegen jeden, der sich ihnen entgegenstellte,  vorging. Per Telegramm forderte Lenin auch die Parteiführer in den Provinzen auf, den „Massenterror sofort einzuführen“, die „Schwankenden zu erschießen“ und „zwielichtige Elemente“ in Konzentrationslager zu sperren. 

Im Dekret „Über den Roten Terror“ wurde diese Politik im September 1918 Gesetz. Die inzwischen nach Moskau umgezogene Regierung verlangte nicht nur, „die Sowjetrepublik von den Klassenfeinden zu befreien, weshalb diese in Konzentrationslagern zu isolieren sind.“ Sie forderte auch, alle Personen, die zu weißgardistischen Organisationen, Verschwörungen und Aufständen in Beziehung stehen, zu erschießen und ihre Namen zu veröffentlichen. Zwischen 250.000 und eine Million Menschen fielen dem kommunistischen Terror zum Opfer – vor allem Unternehmer, Landbesitzer, Geistliche, Offiziere und Mitglieder der Kadettenpartei, aber auch abtrünnige Arbeiter und Soldaten.

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Erleichtert wurde der Sieg der Bolschewisten dabei durch die Uneinigkeit ihrer Gegner. Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Kadettenpartei wollten in Russland ein demokratisches System einführen, wohingegen die zaristischen Generäle eine MiIitärdiktatur anstrebten. Die nicht-russischen Nationen unabhängig bleiben, während die russischen Gegner der Bolschewiki das alte Großreich wiederherstellen wollten. Auch das Ausland half den Putschisten: Deutschland rettete ihr Regime, indem es mit ihnen 1918 einen Friedensvertrag abschloss. Polen folgte 1920 diesem Beispiel, so dass die Rote Armee ihre Kräfte auf andere Fronten werfen konnte.

Wie sehr der neue Staat ein Triumph nackter Gewalt war, zeigte sich auch daran, dass er erst nach einem Jahr eine Verfassung erhielt. Die UdSSR, so hieß es in deren Präambel, sei „ein sicheres Bollwerk gegen den Weltkapitalismus und ein neuer entscheidender Schritt auf dem Wege der Vereinigung der Werktätigen aller Länder zur sozialistischen Weltrepublik der Sowjets“. Das eigentliche Machtzentrum der Sowjetunion – die Kommunistische Partei – wurde nicht einmal erwähnt.

Anders als das Zarenreich gewährte die neue Verfassung den einverleibten Nationalstaaten aber zumindest de jure die Möglichkeit, die Union auch wieder zu verlassen. Ihren Rechten war ein eigenes Kapitel gewidmet. Dieser auf Lenin zurückgehende Ansatz sollte helfen, den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten. 

Die Fiktion vom freiwilligen Zusammenschluss war es aber auch, die knapp 70 Jahre später zum Ende der Sowjetunion führte: Als die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow den Republiken größere Freiheiten gewährte, erklärten sich die baltischen Staaten und Georgien für unabhängig. Die verbliebenen 15 Unionsrepubliken erklärten die UdSSR im Dezember 1991 für aufgelöst.

Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion einmal als größte geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die bolschewistische Nationalitätenpolitik macht er Lenin bis heute zum Vorwurf. Je länger er an der Macht ist, desto mehr betrachtet er es als seine Mission, das russische Großreich wiederherzustellen.

Doch im Unterschied zu Putin hatten die Bolschewiki den Anspruch, durch Industrialisierung, Bildung und Indoktrination einen neuen „Sowjetmenschen“ zu schaffen. Demgegenüber hat Russlands Präsident außer Erpressung, Krieg und nationalem Chauvinismus nicht viel zu bieten. Dass er damit mehr Erfolg hat als die Bolschewiki ist unwahrscheinlich – vorausgesetzt, dass der Gewalt diesmal entschlossener entgegengetreten wird.

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