Ein Böllerverbot gibt es in Deutschland. Es gilt vom 2. Januar bis zum 30. Dezember. Strikt. Das hat in Berlin nur nicht geholfen. Bereits am Freitag setzte die Berliner Polizei über ihren bestätigten Account einen Tweet ab, der an Hilflosigkeit nicht zu überbieten ist: „Seit 11 Uhr böllern Jugendliche in #Kreuzberg und es wird immer schlimmer.“ Rund 2750 mal antworteten Nutzer darauf. Die meisten Antworten waren voller Spott, andere voller Wut auf eine Polizei, die nicht eingreifen kann, will oder darf.
An Silvester ist es eine Verbotszone. Rund um das Pallasseum darf nicht geböllert werden. Auch nicht um Mitternacht. Denn um das Pallasseum hat die Stadt eine Verbotszone errichtet. Genau dort sind die Bilder entstanden, die Berlin den Ruf einer Stadt eingebracht haben, an der an Silvester Bürgerkrieg herrscht. Dann kam das Verbot. Was hat es gebracht? Nichts. Die Verbotszone ist an Silvester und davor weiterhin ein Bürgerkriegsgebiet. Schon am Freitag hatte die Polizei dort einen Einsatz mit einem verletzten Beamten.
Zum Jahreswechsel bricht sich etwas Bahn, das da ist. Vorher und nachher. All die Kunstprojekte, Bildungstage und Wettbewerbe sollen ein harmonisches Zusammenleben in dem zu groß geratenen Hasenkasten vortäuschen. Das sozialistische Ideal wahr werden lassen vom Einzelnen, der seine eigenen Ansprüche zurücknimmt, aber dafür in einer Gemeinschaft aufgeht, die ihn umgibt, bereichert und animiert, als Teil der Gemeinde ein besserer Mensch zu werden. You’ll never walk alone.
Alles Quatsch. Alles linke Hirngespinste. Die Menschen leben nicht im Pallasseum, weil sie von der Gemeinschaft schwärmen. Schon gar nicht wegen der Kulturfeste. Sie hausen dort dicht an dicht, weil sie sich nichts teureres leisten können. Keinen Wohnraum, der einer Familie mit fünf, sieben oder neun Kindern angemessen wäre. Im Pallasseum lagert Sprengstoff. Nicht nur an Silvester.
Ein Böllerverbot ist nicht durchzusetzen. Wenn es Kracher gibt, lassen die Bewohner es krachen. Verbotszone hin oder her. Silvester 2022 hat das wieder eindrucksvoll bewiesen. Ein Verbot müsste beim Verkauf von Feuerwerkskörpern ansetzen. Als Stadtstaat könnte Berlin das umsetzen. Doch dann gibt es Ausweichbewegungen. Etwa nach Brandenburg. Selbst bei einem bundesweiten Verbot gäbe es Alternativen – Polen ist nicht weit.
Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, werden sich Jugendliche Böller und Raketen besorgen und hochgehen lassen. Egal wann und wo das erlaubt ist, oder nicht. Die Politik müsste sie radikal von der Versorgung abschneiden. Wie gut das funktioniert, zeigt sich ebenfalls am Beispiel Haschisch. Es ist schwer, länger durch Berlin zu spazieren, ohne an einer Ecke vorbeizukommen, in der nicht dieser spezifische, süßlich-bittere Geruch in der Luft liegt. Und selbst wenn es gelänge, jeden Kracher von diesen meist Jugendlichen fernzuhalten – was wäre gewonnen?
Nichts. In der Gewalt, die sich rund um Silvester in Berlin und anderen Städten Bahn brach, steckt ein Aggressionspotential, das da ist. Mit oder ohne Böller und Raketen. Das sich seinen Weg sucht – mit oder ohne Kracher. Es ist das gleiche Potential, das während der Weltmeisterschaft zu den Verwüstungen in Brüssel oder Paris geführt hat. Und ja, es hat viel mit Migration zu tun. Mit der gescheiterten „Integration“. Aber das ist nur vordergründig. Weiter gedacht hat die Wut mit der verzweifelten Suche nach Identität zu tun, die in Wohnvierteln wie dem Pallasseum herrscht.
Wenn im Fernsehen „die Jugend“ zu Wort kommt, dann sind das Töchter, die aus vornehmen, milchweißen Familien stammen, gut angezogen sind, sich fehlerfrei artikulieren können und nur von einem Gedanken getrieben sind: Der Frage, wie warm es auf der Erde im Jahr 2123 sein wird. Mit der Jugend im Pallasseum hat das nichts zu tun – aber auch gerade gar nichts. Sie lebt 2023. Denen hat die Gesellschaft gut gemeinte Kulturfestival zu bieten, Rollenspiele und Workshops. Mit dem, was die Jugendlichen dort wollen, hat das nichts zu tun.
Um Lösungswege aufzuzeigen, bräuchte es einen eigenen Text. Eigene Bücher. Doch einige Grundlagen lassen sich auch so benennen. Die Jugendlichen wollen eine realistische Ansprache. Es ist ihnen nicht geholfen, wenn ihnen die Stadt Solveig-Sophie als Sozialpädagogin schickt, die mit ihnen über toxische Männlichkeit spricht. Wer im Pallasseum wohnt, hört keiner weißen Sozialarbeiterin zu, die ihm sagt, er sei als Mann privilegiert und er müsse lernen, friedlich zu dulden. Das ist was für Finn Thorben, dem soviel Geld hinterlassen wird, dass er nun nach einer neuen Sinnstiftung sucht. Wenn du aus dem Pallaseum rauswillst, brauchst du Kraft. Wer dir erzählt, dass Kraft etwas Schlechtes, toxisch Männliches sei, steht dir nur im Weg. Den lachst du aus. Bestenfalls.
Das wichtigste aber, um zu Lösungen zu kommen: Wir müssen uns erst mal wieder trauen, das Problem zu benennen. Es ist eine Jugend, die arm ist, aber nach dem Mehr strebt – der aber die Eliten vorpredigen, nach dem Weniger zu streben sei diese Zukunft. „Die Jugend“ sind in Deutschland eben nicht 26 Jahre alte Reemtsma-Sprößlinge. In der Masse sind es Jungs und Mädchen aus dem Pallasseum oder ähnlichen Umständen. Es ist eine Gefühlslage von Familien mit wenig Geld. Und es ist ein migrantisches Problem, weil in dieser Gesellschaftsgruppe Migranten überrepräsentiert sind. Eine Gesellschaft, die Migration fördern will, in dem sie jede Benennung von Problemen zum Tabu erklärt. Die sich mit der echten Situation nicht auseinandersetzen will, und sie deshalb mit Kulturfesten idealisiert. Die über Böllerverbote redet, um bloß nicht über die Folgen von Migration sprechen zu müssen – eine solche Gesellschaft wird scheitern. Krachend. So krachend wie Berlin am Silvesterabend 2022.