„Immer mehr verstehe ich die Abscheu und die Angst, die Christus auf dem Ölberg überfielen, als er all das Schreckliche sah, das er nun von innen her überwinden sollte. Daß gleichzeitig die Jünger schlafen konnten, ist leider die Situation, die auch heute wieder von neuem besteht und in der auch ich mich angesprochen fühle.“ – Benedikt XVI. in seinem Antwortschreiben zum Missbrauchsbericht der Erzdiözese München im Februar 2022
Als Papst Johannes Paul II. Im Sterben lag, war es das erste Mal, dass die mediale Weltöffentlichkeit daran Anteil nahm, dass ein Papst den Weg alles Irdischen ging. Bei seiner Wahl 1978 war die Medienlandschaft technisch noch nicht so weit, doch bei seinem Tod 2005 gingen unentwegt Live-Bilder des Fernsehens satellitengestützt um die Welt. Die Welt wurde zum Zeugen von Johannes Pauls pflichtbewusster Erfüllung seines Amts bis zuletzt. Der Tod, der ansonsten aus dem öffentlichen Leben unserer Gesellschaft fast vollständig verbannt wurde, wurde hier wieder greifbar, und zwar nicht als Statistik in einem der permanent stattfindenden Kriege, und auch nicht als emotionale Manipulation zwecks Hervorrufung einer Reaktion mit politischen Hintergedanken. Nein, hier begegnete der Tod uns wieder als Unvermeidlichkeit des Lebens, die uns alle erwartet und der wir uns alle stellen müssen.
Die Art und Weise, wie Johannes Paul II. mit seinem Sterbeprozess umging, berührte zahllose Menschen rund um die Welt. Viele führte er – den Autor dieser Zeilen eingeschlossen – damit wieder näher an den Glauben. Papst Johannes Paul II. zeigte einen Weg, wie auch wir hoffen dürfen, mit dem Unvermeidlichen umzugehen, wenn unsere Zeit gekommen ist. Denn das Leiden seiner letzten Lebensjahre, gezeichnet von den Auswirkungen seiner zahlreichen Krankheiten, war und ist immanenter Bestandteil des Lebens, Teil des Kreuzes, das er und wir alle zu tragen haben.
Es ist bezeichnend, dass unsere Gesellschaft den Anblick dieses langen Sterbeprozesses nicht mehr ertragen möchte. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben sich meist lange, bevor der Tod sie erheischt, ins Private zurückzuziehen. Gewiss, das wahrt ihre Privatsphäre, aber es erspart auch der Öffentlichkeit jene Mahnung an unsere Vergänglichkeit, das Memento mori, das über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, ein fester Bestandteil des menschlichen Lebens war. Es tut uns gut, uns unserer Vergänglichkeit zu erinnern.
Als der Konservative mit der Tradition brach
Das Papsttum war bis vor einigen Jahren eine der letzten Institutionen, die diesen wichtigen Gedanken noch pflegte. Päpste starben in ihrem Amt, es war eine Erinnerung daran, dass selbst der Stellvertreter Christi auf Erden nicht vor Krankheit und Tod gefeit ist. Gleichzeitig wirkten die Päpste für uns als Vorbilder mit ihrer pflichtbewussten Erfüllung des Amtes Petri bis zum letzten Atemzug. Diese Tradition bekam einen beispiellosen Riss als Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 überraschend ankündigte, knapp zwei Wochen später von seinem Amt zurückzutreten. Als Gründe für seine Entscheidung führte der damals 85-jährige die Gewissheit an, dass seine „Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben”.
Benedikt aber verstarb nicht kurze Zeit nach seinem Rücktritt. Als der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, damals ebenfalls 85-jährig, seinen Rückzug vom Dirigentenpult bekannt gab, schloss er exakt 3 Monate später seine Augen für immer. Es ist ein nicht unübliches Phänomen unter jenen Menschen, die bis ins hohe Alter ihrer Berufung nachgehen. Ihre Tätigkeit ist ihr Lebenselixier, das ihnen bis ins hohe Alter Vitalität verleiht, ohne das sie aber innerhalb kürzester Zeit dahinwelken. Das aber war bei Benedikt nicht der Fall, im Gegenteil, im Februar 2023 hätte er sein 10-jähriges Rücktrittsjubiläum „gefeiert”.
Man darf davon ausgehen, dass sich Benedikt den Entschluss zu seinem Rücktritt nicht leicht gemacht hatte, doch rief er bei vielen seiner Anhänger Enttäuschung hervor – erst recht nachdem sein Nachfolger deutlich machte, dass der Wind nun aus einer ganz anderen Richtung wehen sollte. Nachdem Johannes Paul II. mit seinem Pflichtbewusstsein bis zum Tod selbst viele seiner Kritiker beeindruckt hatte, wirkte Benedikts Rücktritt, wenn man der offiziellen Darstellung folgt, als hätte es sich der deutsche Papst „einfach gemacht” und die Sache in Ruhe ausklingen lassen wollen. Das mag man auf der sprichwörtlichen „menschlichen Ebene” nachvollziehen können, aber für Könige (Königin Elizabeth II. machte es heuer noch exemplarisch vor) und Päpste gelten eben aus gutem Grund andere Regeln.
Der 10-jährige Kreuzweg der Machtlosigkeit
Doch der Tod Benedikts ließ auf sich warten und damit begann sein langer Kreuzweg. Freilich wird er auch zuvor schon manche Reue empfunden haben, aber vielleicht war der Moment, als am Tag seiner Rücktrittsankündigung der Blitz in den Petersdom einschlug, doch ein Zeichen dafür, dass Benedikt von nun an bereits einen Teil seiner Buße auf Erden tun müsse, indem er dazu verurteilt wurde zum schweigenden Zeugen des fortschreitenden Niedergangs von Kirche und Welt zu werden. Diese Jahre waren geprägt von einem rasanten gesellschaftlichen Umbau, der keinen Stein auf dem anderen lassen will und der sich bewusst gegen alle christlichen Glaubensprinzipien stellt. Ob nun die Auflösung der Geschlechter, die fortschreitende Abtreibungs- und Euthanasiepropaganda, die ebenfalls fortschreitende NGO-isierung der Kirche – all dies muss Benedikt, dem bis zuletzt eine große geistliche Präsenz bescheinigt wurde, zutiefst geschmerzt haben.
Auch der Zustand der mittlerweile fast offen schismatischen deutschen Kirche muss den emeritierten Pontifex geschmerzt haben, so wie auch insgesamt die Behandlung Benedikts in seiner Heimat Zeugnis ablegt von der Schamlosigkeit und Hasserfülltheit der deutschen Presse und Öffentlichkeit gegen den Papst. Wo die Bild noch einst plakativ in bester Sommermärchenmanier „Wir sind Papst” titelte, ist diese Trittbrettfahrerei schon lange einer Rufmordkampagne gegen Benedikt gewichen, die letztlich auf keinen anderen Grund zurückzuführen war, als dass der deutsche Papst ein in der Tradition wurzelndes Glaubensverständnis hatte.
Diese Anstandslosigkeit, Menschen selbst bis kurz vor ihrem Lebensende mit Rachefeldzügen zu überziehen, kam auch in dem Missbrauchsbericht aus der Erzdiözese München zum Ausdruck, der Anfang 2022 durch den Blätterwald ging. Zwar erwiesen sich die fünf Jahre, in denen Benedikt – damals noch als Joseph Ratzinger – Erzbischof von München war, als mitunter die saubersten Jahre im Vergleich zu seinen Vorgängern und Nachfolgern, dennoch ließ es sich die deutsche Presse nicht nehmen diesen Bericht als Benedikts Skandal zu präsentieren, so wie insgesamt sein Pontifikat zunehmend nur noch als von Missbrauchsskandalen geprägt dargestellt wurde. Dabei ließ man geflissentlich außer Acht, dass Benedikts Pontifikat nicht so sehr neue Missbräuche hervorbrachte, als – im Gegenteil – deren erstmalige Aufdeckung und Aufarbeitung.
Akzeptanz und Nachfolge Christi
Benedikt selbst scheint sich diesem Kreuz der Verleumdung nicht entzogen zu haben, auch wenn er sich der Vorgänge wohl bewusst gewesen sein muss, wie sein anfangs zitierter Brief deutlich macht. Der wortgewandte Theologe Benedikt hätte vielen seiner Gegner entwaffnende Antworten liefern können, doch verblieb er, in Nachfolge Christi, der sein Kreuz ebenfalls auf sich nahm, meist in Abgeschiedenheit und Stille. Gott hatte ihm noch eine Dekade auf Erden beschieden, in der er Zeuge eines Niedergangs wurde, die ihm auch sein Scheitern vor Augen führten. Als junger Priester war er federführend beteiligt an den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils, jenes Konzils, das die Kirche so nachhaltig veränderte und dessen Früchte zunehmend Zweifel an dessen Erfolg aufkommen lassen müssen. In seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation, sowie später als Papst, war Benedikt sichtlich darum bemüht, einige der Weichenstellungen des Zweiten Vatikanums nachzujustieren, doch spätestens mit seinem Nachfolger wurden diese Kurskorrekturen umso rigider für nichtig erklärt.
„Ich werde ja nun bald vor dem endgültigen Richter meines Lebens stehen. Auch wenn ich beim Rückblick auf mein langes Leben viel Grund zum Erschrecken und zur Angst habe, so bin ich doch frohen Mutes, weil ich fest darauf vertraue, daß der Herr nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat und so als Richter zugleich auch mein Anwalt (Paraklet) ist. Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und läßt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen.
Mir kommt dabei immer wieder in den Sinn, was Johannes in seiner Apokalypse am Anfang erzählt: Er sieht den Menschensohn in seiner ganzen Größe und fällt vor ihm zusammen, wie wenn er tot wäre. Aber da legt er seine Hand auf ihn und sagt: Fürchte dich nicht, ich bin es!… (vgl. Offb 1, 12 – 17).“
So dürfen wir hoffen, dass Benedikt im Augenblick seines Todes in Christus seinen erwarteten Fürsprecher fand und ihm, mittels des Kreuzes seiner letzten Lebensjahre auf Erden, jener Platz im Himmel zukommt, auf den er, und mit ihm alle Katholiken, trotz aller menschlicher Verfehlungen hoffen darf. Möge er in Frieden ruhen!