In einer großangelegten „Aufarbeitung“ ging der Spiegel nun kurz vor Silvester einer eigenen Artikelserie aus dem vergangenen Sommer auf den Grund. Vor rund einem Monat hatte das Hamburger Magazin vier Artikel aus seinem Online-Angebot entfernt, in denen die Geschichte eines Flüchtlingsmädchens am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros erzählt wurde. Die fünfjährige „Maria“ sei auf einer Kleininsel im Evros von einem Skorpion gestochen worden und daran um den 9. August gestorben. Ein weiteres Mädchen sei ebenfalls gestochen worden und schwebe in Lebensgefahr, hieß es (wie man heute weiß) etwas treuherzig in den Berichten des Spiegel.
„Angesichts der Quellenlage hätte der SPIEGEL die Berichte über den Aufenthaltsort der Geflüchteten und vor allem den Tod des Mädchens deutlich vorsichtiger formulieren müssen. Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehlt, deutet doch manches darauf hin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.“
Weitere Fragen knüpfen sich an den wirklichen Aufenthaltsort der Migranten: Waren sie wirklich schon im Juli auf griechisches Staatsgebiet vorgedrungen, auf eine Insel, von der sie sich nicht ohne fremde Hilfe retten konnten? Zweifel erheben sich auch an diesen Teilen der alten Pushback-Erzählung des Spiegels.
Siouti reiste in den nordgriechischen Grenzort Fylakio, um die vermeintlichen Eltern des Mädchens zu sprechen. Das gelang auch, aber erzählen wollten die beiden Syrer nichts: „Wir wollen nicht darüber reden, wir sind müde.“ Zum Grab ihrer Tochter auf einer der Flussinseln wussten sie nichts Handfestes zu sagen. Sie hätten keinen Stein gesetzt, um keine Plünderer anzulocken, heißt es dazu nun in der Spiegel-Aufarbeitung. Auch sonst erinnerte nichts an diese angebliche Tochter, weder Kleidungsstücke noch Fotos. All das wirkt wenig glaubwürdig auf den heutigen Leser.
Alarmierter Journalismus: Aus Zitaten wurden Tatsachenaussagen
Einziger „Beleg“ für die Existenz und den Tod „Marias“ war das von einer Migrantin verbreitete Foto, das ein kleines auf der Erde liegendes Mädchen mit blassem Gesicht und geschlossenen Augen zeigte. Dieses Bild schickte die Syrerin Baidaa S. um den 9. August an verschiedene NGOs „und wohl auch an Medienvertreter“, so der Spiegel in seiner Aufarbeitung. Dazu habe Baidaa S. unter Tränen vom Tod des Mädchens berichtet wie auch von dem weiteren in Lebensgefahr schwebenden Mädchen. Ihre so lautende Sprachnachricht wurde ebenfalls weitergetragen. Griechische Ärzte konnten später höchstens Mückenstiche an den Kindern der Gruppe feststellen.
Am selben Tag berichteten auch die griechische Tageszeitung Efsyn und der arabische Nachrichtenkanal Al-Jazeera über das angebliche Geschehen. Andere Medien (der britische Channel 4, der Guardian und Le Monde) folgten im selben Trott. Eine neue Story war geboren, um wiedererzählt zu werden. Ob sie wahr oder falsch war, verlor in dem Moment an Bedeutung, in dem ein allseits anerkanntes Blatt sie gedruckt hatte. Dies gibt einer Geschichte für viele schon den Rang der Neuigkeit, des Wissenswerten und wiederum Berichtenswerten. Doch zugleich wird offenkundig, dass die Spiegel-Macher sich keineswegs nur als Berichterstatter sahen. Noch in seiner Aufarbeitung beklagt der Spiegel, dass die von ihm entfachte „Medienaufmerksamkeit … den Geflüchteten“ nicht half.
Verwirrung um die „richtige“ Insel: Wie eine Lüge zur Wahrheit wurde
Daneben erleidet das Hamburger Magazin auch in der zweiten Angelegenheit, die es selbst für relevant erachtet, einen ziemlichen Schiffbruch: Dass die 38 Migranten sich auf einer Flussinsel befanden, die zum griechischen Staatsgebiet gehört, erscheint nach Lektüre der Spiegel-Aufarbeitung wenig wahrscheinlich.
Der Spiegel stellt zunächst einmal fest, dass es um zwei Inseln geht, deren größere etwa auf der Höhe des Dorfes Kissari liegt. Laut dem griechischen Grundamt sei die Insel griechisches Gelände. Doch laut dem Athener Verteidigungsministerium ist die Insel geteilt, umfasst im Osten auch einen Streifen türkischen Landes. Ein Rückzug auf türkisches Staatsgebiet war den gestrandeten Syrern also jederzeit möglich. Aber eigentlich ist es noch absurder. Denn zunächst waren die Syrer gar nicht auf dieser größeren Inseln, sondern auf einer kleineren weiter südlich.
„Nur eine gute halbe Stunde nach den letzten Nachrichten mit den Geodaten der südlichen Insel erreicht den SPIEGEL-Journalisten eine Livelocation von der Kissari-Insel.“
Das mag auch der Spiegel-Reporter nicht direkt glauben und stellt in den Raum, dass die Ortsangabe manipuliert worden sein könnte. Auch der Spiegel weiß sich am Ende keinen anderen Rat: Die „Livelocation von der Kissari-Insel“ stehe im Widerspruch zu „zahlreichen anderen Belegen, dass die Geflüchteten seit mehreren Tagen auf türkischem Terrain waren“. Der Spiegel kommentiert kleinlaut:
„Dass die südliche Insel laut griechischem Grundbuch türkisch ist, ist ein Problem – auch was die Rettung durch die griechischen Behörden angeht. Das muss dem SPIEGEL-Journalisten genauso klar sein wie den NGOs und den Geflüchteten.“
Danach geschieht allerdings das Erstaunliche: Am 25. Juli gibt es laut Spiegel Bildbelege dafür, dass sich die 38 Migranten auf der nördlichen Kissari-Insel befinden. Wie sie dort hinkamen, bleibt ein Rätsel. Ohne Boot dürfte es nicht gegangen sein. Doch wer stellte es bereit? Später werden die Syrer erzählen, sie hätten das Schlauchboot anderer Migranten vorgefunden. Verräterisch ist die Sprache der Spiegel-„Aufarbeitung“: Spätestens jetzt seien die Migranten „auf der ‚richtigen‘, nämlich der Kissari-Insel, die die NGOs dem Europäischen Gerichtshof gemeldet hatten“. Mission erledigt: Aus einer Lüge wurde Wahrheit. Allerdings können die griechischen Behörden noch immer niemanden auf der Insel finden.
Am 15. August hatten die Migranten plötzlich ein Schlauchboot
Daneben werden aber auch die „Pushforwards“ der türkischen Grenzeinheiten bestätigt. Im August schrieb das Blatt, „die Türken“ hätten die syrischen Migranten „zurück an den Evros gezwungen“ – wiederum mit Bezug auf die Erzählungen von Baidaa S. Was das Blatt ignoriert, ist die aufgrund der Erfahrungen von 2020 geänderte griechische Migrations- und Asylgesetzgebung, nach der syrische Migranten bereits in der Türkei sicher sind und folglich zurückgewiesen werden können und müssen, wenn sie keine gültigen Einreisepapiere besitzen.
Die Frage nach der territorialen Zuordnung der Evros-Insel wird damit etwas weniger relevant. Für das Recht auf Asyl – das die Syrer nach griechischem Recht nicht hatten – macht sie keinen Unterschied. Eventuell aber für die Pflicht zur Rettung aus einer Gefahrenlage, falls eine solche bestand und jeder andere Ausweg versperrt war. Was den letzten Punkt angeht, leisten die Schergen Erdogans den Menschenrechtlern von diesseits des Evros schöne Dienste. Sie drängen Migranten, die sie einmal zur Grenze gebracht haben, angeblich immer wieder zurück. Dadurch entsteht demnach eine hoffnungslose Lage für die „Geflüchteten“. Man darf aber auch hieran zweifeln. Denn die Erzählung von den „Pushbacks“, durch die Migranten hin und her geschoben werden, ist vor allem im Interesse der Migranten selbst, die davon berichten. Vom Spiegel befragt, wollten mehrere der Mitreisenden nichts von diesen angeblichen „Pushbacks“ erzählen. Zu „traumatisierend“ seien die Erlebnisse gewesen. Die Männer leben inzwischen in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern.
Am 15. August wird die Gruppe der 38 Migranten auf Höhe der südlichen, türkischen Insel von griechischen Beamten aufgegriffen. Ein Video dokumentiert, wie sie mit dem Schlauchboot übersetzen. Die illegale Einreise führt zur Verbringung der Migranten ins Aufnahmezentrum von Fylakio, wo einige von ihnen nicht lange bleiben werden.
Das einigermaßen unerhörte Geschehen wird vom Spiegel berichtet wie das Selbstverständlichste auf der Welt. Die illegale Einreise der Migranten ist das Erwart- und Wünschbare. Wie sie geschieht, wer das Schlauchboot lieferte und was die Reisenden zu ihrem Ausflug über die EU-Außengrenze legitimiert, ist von keinem Interesse für die Berichtenden.
Täuschten NGOs den Menschenrechtsgerichtshof?
Fast noch skandalöser erscheint allerdings, was zwischen den Zeilen der Aufarbeitung über die Arbeitsweise von NGOs und Europäischem Menschengerichtshof (EGMR) zu lesen ist. Die Menschenrechtsanwälte von „HumanRights360“ und die NGO „Griechischer Flüchtlingsrat“ behaupteten schon am 20. Juli, die Migranten befänden sich auf der Nordinsel. Das versicherten die NGO-Mitglieder sogar in ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der daher eine Verpflichtung der griechischen Regierung zu Rettung und Versorgung der 38 Migranten erkannte.
Doch der Standort der Migranten wurde anscheinend erst nachträglich verändert, um diesem NGO-Narrativ zu entsprechen. Erst ab dem 25. Juli und dann wieder am 11. August gibt es Bildbelege für die Anwesenheit von einigen der Migranten auf der Kissari-Insel. Ein Bootsverkehr zwischen beiden Inseln scheint wahrscheinlich – und entwertet die Erzählung vom Gestrandetsein massiv. Wenn einem ein Schlauchboot zur Verfügung steht, ist man nicht gestrandet, und man braucht auch keine „Rettung“.
Die Menschenrechts-NGOs ließen sich entweder selbst täuschen oder haben ihrerseits den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof getäuscht. Der EGMR entschied zwar Ende Juli, dass Athen Hilfe schicken müsse – doch nur auf der Grundlage falscher Annahmen. Der Spiegel mokiert sich noch in seiner Richtigstellung über die zögerliche Umsetzung des Urteils durch die griechische Regierung. Das ist wohl Hamburger Speersort-Logik.
Berichterstattung auf Zuruf: NGOs und Haltungsjournalismus in einem Boot
Im griechischen Aufnahmezentrum von Fylakio traf Christides, als NGO-Dolmetscher getarnt, die Eltern des vermeintlichen Kindes, deren Namen der Spiegel als „Maryam B.“ und „Mohammad A.“ angibt. Angeblich leben sie mit ihren vier Kindern in einem Migrantenlager bei Drama. Erst nach dem großen Presserummel haben sie drei ihrer Kinder – eingeschlossen die angeblich tote „Maria“ – in Syrien registriert. Mit den „richtigen Verbindungen“ und etwas Bakschisch sei das machbar, so der Spiegel-Bericht. Welche Rückschlüsse das über die „Flucht“ der syrischen Familie erlaubt, muss hier nicht gesagt werden.
Die Wortführerin Baidaa S. lebt laut Spiegel inzwischen in Rheinland-Pfalz. Schon kurz nach ihrer Aufnahme im Migrantenzentrum von Fylakio an der Evros-Grenze postete sie ein TikTok-Video von einem Flug, der sie von Athen nach Deutschland brachte. Unter dem inzwischen gelöschten Video schrieb sie: „Ich bin in Deutschland angekommen, es war ein langer Kampf.“ Der Spiegel scheint nun selbst Zweifel zu bekommen, ob das alles so mit rechten Dingen zuging.
„Wie Baidaa S. in so kurzer Zeit die nötigen Papiere erhalten konnte, um nach Deutschland zu fliegen, lässt sich nicht aufklären. Einem Social-Media-Post zufolge hat sie inzwischen einen Syrer in Deutschland geheiratet. Sie postet seither viel auf ihren TikTok- und Instagram-Kanälen. Mehr als 24.000 Menschen folgen ihr Ende Dezember auf Instagram. Ein weiteres Gespräch mit dem SPIEGEL lehne sie ab, lässt ihr Mann am Telefon ausrichten.“
Die „Aufarbeitung in eigener Sache“ endet mit einem journalistischen Offenbarungseid, der ein ziemlich klares Schuldeingeständnis des Auslandsressorts ist:
„Die früheren Beiträge zum Fall Maria werden wir nicht mehr auf die Onlineseite stellen – auch nicht in überarbeiteter Fassung. Zu vieles darin müsste korrigiert werden. Stattdessen veröffentlichen wir hier die Ergebnisse unserer vertieften Recherche.“
Im Zweifel müsse man „eher auf eine Information … verzichten, als die Gefahr einer falschen Berichterstattung zu laufen“. Diese Gefahr hat man im Fall „Maria“ nicht vermieden, sie vielmehr gesucht. Ob die Schuld beim Autor Christides oder der Ressortleitung in Hamburg liegt, wird für Außenstehende zur lässlichen Frage. Der beherrschende Gesamteindruck bleibt: Wertungen waren wichtiger als überprüfte Fakten, Meinungen bedeutender als die Realität. Das entspricht allerdings dem Bild, das das einstige Gatekeeper-Magazin heute insgesamt darbietet.