Im letzten Buch von Giovannino Guareschi über den Landpfarrer Don Camillo muss sich der Protagonist weniger mit dem kommunistischen Bürgermeister Peppone als mit einem jungen Priester namens Don Francesco herumschlagen. Guareschis Satire wurde häufig mit einer Kritik am zweiten vatikanischen Konzil und insbesondere der Ächtung des traditionellen römischen Ritus gleichgesetzt. Doch Guareschis Vergleich geht weiter. Denn während Don Camillo zutiefst mit der Heimat in der tiefen Po-Ebene, den dort lebenden Menschen und ihren Alltagsproblemen verkettet ist, stammt Don Francesco aus der Stadt und hat vor allem die „sozialen Probleme“ vor Augen. Auf die Frage Don Francescos, wo er denn die Armen und Ausgestoßenen fände, zu denen die Kirche am dringendsten vorstoßen müsste, antwortet Don Camillo lax, dass auf dem Land niemand wirklich reich sei, „soziale Brennpunkte“ gebe es aber nicht.
Der gegenwärtige Katholizismus wartet mit dem Paradoxon auf, dass der aktuelle Pontifex als „Großstadtpriester“ in der Vergangenheit immer wieder mit der Forderung aufwartete, den „Stallgeruch“ der Hirten an der Krippe anzunehmen, um die Schafe besser zu verstehen. Doch in kaum einem Pontifikat haben sich Gläubige und „Amtskirche“ weiter voneinander entfernt. Der Eindruck herrscht, dass sich ein Großteil des Kirchenvolkes wünscht, dass die Hirten ihren eigentlichen Aufgaben nachkommen sollen, indes Letztere im Verbund mit mächtigen Laienorganisationen sich lieber für Politik als Religion interessieren.
Insbesondere in Deutschland hat sich ein außerordentlicher Graben entwickelt, bei dem vermeintliche Lösungen wie eine „Demokratisierung“ der Kirche oder Projekte wie der „Synodale Weg“ eher Wunden aufgebrochen haben, statt sie zu heilen. Mitverantwortlich ist dafür ein Verbandskatholizismus, der ebenfalls nur aus Funktionären und politischen wie gesellschaftlichen Eliten besteht, der im Grunde keinerlei Ahnung davon hat, was an der Basis geschieht, aber ebenfalls wie Don Francesco über Probleme theoretisiert, an dessen Lösungen niemand Interesse hat, weil schon die Ausgangsfrage nachrangig ist.
Während in der Kirche einige Geistliche offenbar nicht mehr den Unterschied zwischen Weltkirche und Globalismus zu kennen scheinen, weiß Müller sehr genau um die Risiken, die von der gewollten Angleichung der Welt ausgehen. Bezeichnenderweise trägt Müller bis heute das Rad seiner Mainzer Heimat im Wappenschild. Böse Zungen könnten ihn als Relikt der längst abgehandelten Bonner Republik abtun. Womöglich ist das auch einer der Gründe für die ständige Reibung, die entsteht, wenn der Kardinal das Wort ergreift.
Denn Müller ist einer der Lieblingsfeinde der deutschen Medien, kann er doch neben dem theologischen Florett auch mit dem rhetorischen Säbel umgehen. Die Wikipedia-Seite Müllers führt 15 öffentliche Diskussionen an, die der ehemalige Bischof von Regensburg angestoßen hat oder mitprägte. Man kann zu den verschiedenen Themen, die von der Auseinandersetzung um ein religionsfeindliches Kinderbuch, über Rechtsstreitigkeiten mit der Humanistischen Union bis hin zur Beurteilung des russischen Präsidenten Wladimir Putin („Machtspieltrieb mit der Gefühlswelt eines Triebtäters“) reichen, eine andere Meinung besitzen. Doch Müller zeigt damit vor allem eins: Er hat eine Meinung.
Das ist insbesondere in der geschmeidigen Anpassungswelt des deutschen Katholizismus mittlerweile ein Sakrileg geworden. Doch für Müller gilt offenbar nicht nur theologisch, sondern auch in der öffentlichen Debatte die Devise: alles, aber hauptsache nur nicht relativistisch sein. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis hat den Kardinal nicht umsonst zum „Donald Trump der Katholiken“ geadelt. Darüber sollte nicht vergessen werden, dass Müller immerhin über 500 wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht hat, mehrere Gastprofessuren besitzt und als ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation einst auf einem entscheidenden Stuhl der Kurie saß, wenn es um die Lehre als solche ging.
Müller hatte keine einzige Zeile des Papiers verfasst, nahm jedoch auch unter großem öffentlichen Druck nicht seine Unterschrift zurück. Die Vorwürfe drängten von allen Seiten auf ihn ein: Er hänge „kruden Verschwörungstheorien“ an, der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer sprach von „rechtspopulistischer Kampfrhetorik“ und unterstellte dem Papier „strukturellen Antisemitismus“. Die deutschen Bischöfe distanzierten sich mehrheitlich von der Meinung eines „einzelnen Bischofs außerhalb Deutschlands“ (Georg Bätzing).
Müller wehrte sich, sowohl in der Tagespost wie auch in der Zeit; der Begriff des Verschwörungstheoretikers würde nunmehr gegen jeden verwendet. Sein Anliegen sei die „zum Teil unzulängliche kirchliche Reaktion“ gewesen. Man wolle den Text bewusst missverstehen, um „mit absurden Anwürfen und Unterstellungen Empörungsbedürfnisse abzureagieren und sich wechselseitig zu bestätigen“. Die Kritiker blendeten aus, dass die illiberalen Maßnahmen bereits bestünden und mit dem chinesischen Social Scoring ein Vorbild bestehe.
Das war jedoch nicht das Ende der „Causa Müller“. So betonte er später, dass „Leute, die auf dem Thron ihres Reichtums sitzen“ die Möglichkeit sähen, ihre Agenda durchzusetzen. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung bewertete dies neuerlich als „absurde, antisemitische Verschwörungsmythen“ und forderte die Distanzierung der deutschen Bischöfe von Müller. Dass Müller zudem von einer Gleichschaltung sprach, als er vor einem totalen Überwachungsstaat warnte, sorgte für weiteren Trubel. Dass Müller dann auch noch die „Klassenkampfrhetorik“ beklagte, mit der die Spaltung der Gesellschaft zwischen Geimpften und Ungeimpften vorangetrieben wurde, trieb neuerlich manchen Gegner auf die Barrikaden.
Die Corona-Krise dürfte Müller demnach langfristig mehr geholfen als geschadet haben. Man sollte nicht den Fehler begehen, Müller als einen „Franziskus-Feind“ abzustempeln, wie es die Presse gerne tut, jedoch als einen der gefühlten Orientierungsgestalten für die Phase nach dem Ende des aktuellen Pontifikats. Mit dem Gespür eines Landpfarrers hat Müller früh bemerkt, wen die Krise getroffen hat – wobei sein Augenmerk auch auf der totalitären Instrumentalisierung in der Dritten Welt lag, deren Kirchenvertreter dem Finthener mental deutlich näher stehen als einige abgehobenen Funktionäre des deutschen Episkopats.
Müller feiert an Silvester seinen 75. Geburtstag. Das ist für einen Kardinal noch kein hohes Alter. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Müller beim nächsten Konklave dabei sein dürfte, bevor er mit seinem 80. Geburtstag sein Wahlrecht verliert. Die Kirche denkt nicht in einzelnen Pontifikaten, sondern in den großen Traditionslinien. Und vielleicht wird sich dann der ein oder andere entsinnen, dass Müller als einer der wenigen den Athanasius gemimt hat, als man die Schließung von Kirchen und die Absage gemeinsamer Gottesdienste als alternativlos abkanzeln wollte. Dann könnte sein Wort viel größeres Gewicht haben als in all den Jahren zuvor.