Zwanzig Uhr. Das ist in Deutschland mehr als eine Uhrzeit. Marketingexperten würden vielleicht sagen, es sei ein Markenversprechen. Um 20 Uhr läuft in Deutschland die Tagesschau, in der ARD – darauf kann sich der Zuschauer verlassen. Egal, ob Terroristen ein Flugzeug entführen, die Mauer fällt oder Deutschland eine Kanzlerin bekommt. Nur der Fußball vermag es ab und an, den Sendeplatz zu besetzen.
Psychologen würden das Verhältnis zwischen 20 Uhr und der Tagesschau vielleicht eine Bahnung nennen. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich dabei um Vorgänge, die jemand tut, ohne noch groß darüber nachzudenken. Schalten während des Autofahrens zum Beispiel. Oder halt um 20 Uhr die Tagesschau anschauen. Ähnlich, wenn auch weniger freundlich beschrieb das Helmut Thoma:
„Die (Tagesschau) ist eines der Phänomene der deutschen Fernsehlandschaft. Die könnten in Latein die Nachrichten verlesen mit zwei brennenden Kerzen, und die Sendung hätte immer noch gute Ratings.“
Für den RTL-Urvater war die Tagesschau keine Sendung, sondern ein Ritual. Doch so erfolgreich er mit dem Aufbau des Privatsenders war. An der Tagesschau biss Thoma sich die Zähne aus. Ebenso wie die Konkurrenz von Sat.1 oder Pro Sieben. Versuche, das Programmschema so zu ändern, dass der Mythos Tagesschau überwunden wird, scheiterten. Meist kläglich. Am ehesten erfolgreich war noch Deutschlands erste Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die den Nachrichten wenigstens das junge Publikum nehmen sollte.
Nur ist GZSZ mittlerweile froh, wenn die Seifenopfer mal drei Millionen Zuschauer vor dem Fernsehen vereint. Die Tagesschau erreicht täglich zwischen vier und sechs Millionen Zuschauer. Nur mit der Hauptsendung. Zeitgleich strahlen Phoenix und die dritten Programme ebenfalls die Tagesschau aus und kommen zusammen auf die gleichen Werte. An starken Tagen, etwa sonntags vorm Tatort, reicht es für die Hauptausgabe auch mal zu zweistelligen Millionenwerten. Dazu kommen noch die Abrufe im Internet. Auch ihre größten Kritiker kommen nicht daran vorbei: Die Tagesschau ist immer noch die Institution im deutschen Nachrichtenwesen.
Aber die Kritik wird lauter. In den Umfragen kommt die Tagesschau immer noch gut weg. Zumindest in denen, die ARD oder ZDF selbst erheben. Die Werte mögen so zwischen 63 und 99 Prozent pendeln. Doch die Botschaft dieser Umfragen ist immer simpel und ähnelt dem, was der NDR-Intendant Joachim Knuth zum Jubiläum in schönstem Sozialistendeutsch formuliert hat:
„Die Nachrichten, die eine Gesellschaft benötigt, um auf Basis geprüfter Fakten und Informationen im Gespräch zu bleiben: Das liefert die tagesschau seit 70 Jahren verlässlich und genießt dafür zurecht das Vertrauen so vieler Menschen in Deutschland.“
Vom Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs stammt das berühmte Wort, ein Journalist solle sich mit keiner Sache gemein machen – auch nicht mit einer guten. Doch das gilt in der Tagesschau längst nicht mehr. Ihre Haltung ist grün-rot – und das lässt die Redaktion ihre Zuschauer auch wissen. Die Erzählmuster sind mittlerweile so eingespielt, dass sich eine Mustersendung der 20-Uhr-Nachrichten ohne Weiteres erstellen lässt:
- Beitrag, warum der Klimawandel gefährlich und grün-rote Politik daher wichtig ist.
- Beitrag, warum Rechts gefährlich und grün-rote Politik daher wichtig ist.
- Beitrag, warum das mit der Energiewende schon klappen wird und grün-rote Politik daher richtig ist.
- Beitrag, dass es in Deutschland gut läuft und grün-rote Politik daher richtig ist.
- Beitrag über den Krieg in der Ukraine, der daran Schuld ist, wenn in Deutschland ganz ausnahmsweise mal doch was minimal am Optimalsein vorbeischrammt.
- Danach das Wetter mit Warnungen vor den Folgen des Klimawandels.
Was in das grün-rote Erzählschema passt, greift die Tagesschau eifernd auf. Was dem grün-roten Erzählschema widerspricht, lässt die Redaktion weg: Zur Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht musste die Tagesschau regelrecht genötigt werden. Tötet ein Deutscher einen Einwanderer, ist es eine Top-Meldung und der Aufmacher; tötet ein „Schutzsuchender“ eine Deutsche, ist es nur „von regionaler Bedeutung“ und findet in der grün-roten Welt der Tagesschau nicht statt.
Am Beispiel Twitter exerziert die Redaktion ihre zunehmend hemmungslose Parteinahme. Elon Musk sperrt Journalisten, die veröffentlicht haben, wann und wo sich dessen Kinder bewegten, ist eine Geschichte für die Tagesschau. Der böse Milliardär, der „die Grenzen des Sagbaren erweitert“ und „Hass und Hetze“ das Tor öffnet, ist ein grün-rotes Feindbild – und wird folglich von der Tagesschau bedient. Klärt aber Musk darüber auf, dass linke Mitarbeiter vor ihm gezielt rechte Meinungen unterdrückt, aktiv in den amerikanischen Wahlkampf eingegriffen und politisch unerwünschte Accounts gesperrt haben, dann schweigt die Tagesschau dazu beharrlich. Linke als Täter, Beweise für Cancel Culture, offene Aufklärung über eigene Parteinahme – das alles passt weder ins grün-rote Weltbild noch in die 20-Uhr-Nachrichten. Tagesschau und grün-rotes Weltbild bilden mittlerweile ein Markenversprechen.
Selbst die Fehler sind auffällig. Einen russischen Angriff der Ukraine zuzuschreiben, ist der Tagesschau bisher nicht passiert – umgekehrt schon. Als „Pegida“ einen gewissen Zulauf hatte, musste die Redaktion mehrfach Fehler korrigieren. Nun passieren die im Nachrichtengeschäft. Jedem. Doch alle Fehler der Tagesschau fielen zu Ungunsten von Pegida aus. Eine bemerkenswerten Relotiusion. Die unsägliche Rolle der Tagesschau als Einheizer für immer schärfere Corona-Maßnahmen hat mittlerweile sogar die Wissenschaft beschrieben. Doch bevor die Tagesschau so wie Twitter die eigenen Fehler aufarbeitet, entschuldigt sich ZDF-Intendant Norbert Himmler für die Fäkalaussetzer von Jan Böhmermann.
Es ließe sich von der Vergangenheit der Tagesschau schwärmen. Von ihrem Ruf in der DDR, als unbestechlich zu gelten. Der brachte der Sendung das Markenversprechen des „Westfernsehens“ ein, das im Gegensatz zum Ost-Pendant Aktuellen Kamera als zuverlässig galt. Oder vom Kult-Nachrichtensprecher Karl-Heinz Köpcke, der es mit seiner Bildschirm-Präsenz bis in die Popkultur schaffte. Wolfgang Niedecken oder Westernhagen erwähnten ihn in ihren Liedtexten. Köpcke aber nahm sich genau wie Friedrichs selbst so stark zurück, dass ihm die Zuschauer die Neutralität glaubten und ihn folglich als Institution akzeptierten.
Eine Institution ist die Tagesschau immer noch. Aber eine, die sich um den Ruf bringt, den ein Köpcke, eine Dagmar Berghoff oder ein Wilhelm Wieben erarbeitet haben. Und die ihre Medienmacht nutzt, um ein politischer Faktor zu sein. Sentimentalität macht daher dieser Tage keinen Spaß – zumindest nicht im Zusammenhang mit der Tagesschau. An die bleibt nur der Appell, wieder mehr Westfernsehen und weniger Aktuelle Kamera zu sein.